Warum forderte Ludwig XVI dass sich der erste und zweite Stand der Nationalversammlung anschließen sollten?

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König Ludwig XVI. hat dies unter dem Druck der Umstände am 27. Juni 1789 getan.

Ein vorausgegangener Versuch, einen revolutionären Schritt (Erklärung zur Nationalversammlung) rückgängig zu machen und wieder eine nach Ständen getrennte Beratung durchzusetzen war am 23. Juni 1789 am entschlossenem Widerstand der Abgeordneten und einer Scheu, eine Anordnung mit brutaler Gewalt bis hin zur Tötung aufzuzwingen, gescheitert. 

Er konnte die politische Entwicklung, die zur Entstehung einer Nationalversammlung führte nicht gut verhindern. Eine Anzahl von Abgeordneten des ersten Standes (Klerus) und des zweiten Standes (Adel) hatte sich bereits der Nationalversammlung angeschlossen.

König Ludwig XVI. hielt es in dieser Lage besser, zu einer gemeinsamen Versammlung aller Abgeordneten einzuladen. Dies konnte ihn als weiterhin gültige Autorität erscheinen lassen und seinen eigenen Einfluss innerhalb der Nationalversammlung durch Mitwirkung von Abgeordneten, die zu einer starken Stellung von Königtum, Adel und Kirche neigten vergrößern,

Die Abgeordneten des Dritten Standes (französisch: Tiers état) in den Generalständen (französisch: États Généraux) hatten sich mit großer Mehrheit am 17. Juni 1789 zur Nationalversammlung (Assemblée nationale) erklärt. Die anderen zwei Stände, Klerus (Geistliche; Clergé) und Adel (Noblesse), sollten nicht einfach völlig von der politischen Willensbildung ausgeschlossen werden, sondern eine Vertretung der Nation statt von einzelnen Ständen stattfinden. Die Vertreter der anderen Stände wurden von den Abgeordneten des Dritten Standes dazu aufgerufen, sich der Nationalversammlung anzuschließen.

Am 19. Juni 1789 stimmte eine knappe Mehrheit beim Klerus (149 gegen 137) dafür, sich der Nationalversammlung anzuschließen. Beim Adel war es zunächst nur eine Minderheit (80).

Am 20. Juni 1789 legten die Abgeordeten des Drittten Standes sowie eine wenige Abgeordnete des Klerus (am bekanntesten ist von ihnen Henri Grégoire, ein Abbé [katholischer Weltgeistlicher]) einen feierlichen Eid ab, sich nicht zu trennen und nicht auseinanderzugehen, bevor eine Verfassung geschaffen worden sei (Ballhausschwur).

Am 22. Juni wurde in der Kirche St. Louis eine Vereinigung mit der Mehrheit der Geistlichen und mit einer Anzahl Adliger realisiert.

König Ludwig XvI. glaubte nun stark auftreten zu müssen und versuchte, in einer königlichen Sitzung (séance royale) amit einer großen Gesamtsitzung der Stände am 23. Juli 1789 die revolutionären Schritte rückgängig zu machen. Dies scheiterte aber. Die Abgeordneten des Dritten Standes blieben trotz Aufforderung zum Auseinandergehen und Drohungen des Königs sitzen. Herangehenden Leuten des Königs stellten sich auch einige liberale Adlige entgegen.

Auf den König wirkten Einflüsse aus seiner Umgebung in verschiedene politische Richtungen ein. Ludwig XVI scheute vor einem blutigem Gemetzel und Auflösung der Nationalversamnmlung mit brutaler Gewalt zurück. Dies hätte auch sein Ansehen bei großen Teilen der Bevölkerung stark beschädigt. Es war mit Empörung von Volksmengen zu rechnen. Nicht alle militärische Truppen erweckten den Eindruck, bei einem solchen Vorgehen zuverlässig mitzumachen. Der Finanzminister Jacques Necker riet zu einem gewissen Nachgeben. Es drohte ein Staatsbankrott und erwünscht waren Beschlüsse, die zu mehr Einnahmen führten.

Wolfgang Kruse, Die Französische Revolution. Paderborn , München : Wien ; Zürich : Schöningh, 2005 (UTB : Uni-Taschenbücher : Geschichte ; 2639), S. 19:

„Nach weiteren erfolglosen Auflösungsversuchen lenkte der König schließlich ein und forderte die Vertreter von Adel und Klerus nun doch auf, sich dem Dritten Stand anzuschließen.“

Klaus Malettke, Die Bourbonen Band 2: Von Ludwig XV. bis zu Ludwig XVI. : 1715 - 1789/92. Stuttgart : Kohlhammer, 2008, S. 229:

„Auf Anraten Neckers und der Königin forderte Ludwig XVI. am 27. Juni die Mehrheit der Deputierten des Adels und den Rest des Klerus dazu auf, sich der Nationalversammlung anzuschließen. Er tat das in der bekundeten Absicht, Blutvergießen zu verhindern.“

Johannes Willms, Tugend und Terror : Geschichte der Französischen Revolution. München : Beck, 2014, S. 149:

„Nach dem Scheitern der Séance royale wurde die Nationalversammlung zum neuen Kraftzentrum. Diese Einsicht veranlasste die Mehrheit des Klerus dazu, sich ihr am 24. Juni anzuschließen. Dem Beispiel folgten tags darauf 48 Abgeordnete des Adels. Damit stand fest: Die Krone konnte sich auch nicht mehr auf die Unterstützung von Klerus und Adel verlassen. Die Einsicht in die eigene Schwäche zwang Louis XVI jetzt zu dem Schritt, den er lange verweigert hatte. Auf Betreiben Neckers, der dem Zaudernden nachdrücklich zusetzte, sprach der König in einem an die beiden privilegierten Stände gerichteten Schreiben vom 27. Juni die «Einladung» aus, sich mit dem Dritten Stand zu gemeinsamen Sitzungen zu versammeln. Das Schreiben formulierte die Kapitulation des Königs, der damit die Nationalversammlung förmlich anerkannte.

Tatsächlich hatte er keine andere Wahl, wie der Comte de MercyArgenteau urteilte, der dem österreichischen Kaiser Joseph II. am 4. Juli 1789 schrieb, Frankreich werde gerade von der heftigsten Krise erschüttert, die er hier je erlebt habe, «denn zwischen dem 23. und dem 27. Juni schwebte man in der unmittelbaren Gefahr einer Hungersnot, eines Bankrotts und eines Bürgerkriegs. Der Hof ging schon mit Plänen um, sich an einen sicheren Ort zu flüchten, was angesichts der Befehlsverweigerung der Truppen, für die es einschlägige Beispiele gibt, nicht leichtgewesen wäre. Hätte man dem abwegigen Gedanken, der von einigen Personen der königlichen Familie unterstützt wurde, nachgegeben und M. Necker verhaftet oder wenn der Minister zurückgetretenwäre, wie er es vorhatte, dann hätte sich das Volk empört, wäre ein Massaker von Klerus und Adel sehr wahrscheinlich gewesen, und die Revolution wäre ausgebrochen».“

https://langzeitarchivierung.bib-bvb.de/wayback/20190716085802/https:/www.historicum.net/de/themen/franzoesische-revolution/einfuehrung/verlauf/artikel/ii-beginn-der/

„Am 17. Juni erklärte sich die Tiers-Kammer auf Vorschlag des Abbé Sieyès zur "Nationalversammlung" (Assemblée Nationale ). In seiner Begründung vertrat Sieyès die Auffassung, dass die Nation nicht durch den König oder eine privilegierte Elite allein repräsentiert werden könne, sondern nur durch die Masse des Volks, den Dritten Stand. Mit dieser Proklamation der Volkssouveränität hatten die Vertreter des Dritten Standes einen revolutionären Weg beschritten, dem sich am 19. Juni nach knappem Mehrheitsbeschluss auch der Klerus anschloss.

Als die Abgeordneten am 20. Juni den Versammlungssaal verschlossen fanden, wichen sie ins nahe gelegene Ballspielhaus aus und schworen sich, "niemals auseinander zu gehen und sich überall zu versammeln ... bis die Verfassung geschaffen und auf dauerhaftes Fundament verankert ist." 

Schließlich gingen auch Teile des Adels zur allgemeinen Versammlung über, die sich am 9. Juli in Assemblée Nationale Constituante (Verfassungsgebende Nationalversammlung) umbenannte und damit ihrer wesentlichen Zielsetzung Ausdruck verlieh: Umbau von Staat und Gesellschaft auf dem Weg der Verfassungsgebung. Dem König - unschlüssig und in seiner Autorität deutlich geschwächt - blieb nichts anderes übrig, als der Nationalversammlung, die nun als konkurrierende Souveränität im Staate an seine Seite getreten war, seine Zustimmung zu erteilen.“