Nathan der Weise Kerngedanken der Schlusskonzeption?

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Was bei euch im Unterricht als Neufassung behandelt worden ist, weiß ich nicht.

Ich deute dir aber einmal an, wie man über den Widerspruch zwischen der Aussage der Ringparabel und der Schlussszene schreiben kann:

Die Ringparabel gilt als die zentrale Formulierung von Lessings Forderung nach Toleranz.

Und doch kündigt Nathan im Monolog, wo er seine Gedanken ohne Verstellung formuliert, mit: "Nicht die Kinder bloß speist man mit Märchen ab."

Warum weckt Lessing von vornherein den Zweifel an der Aussagekraft der Parabel?

Ein Grund könnte sein, dass er menschliche Wahrheit als stets nur vorläufige Erkenntnis ansieht. So in seinem Text über die Wahrheit

"Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!"

Ein zweiter lässt sich in die Schlussszene des Nathan hinein interpretieren. 

Da sagt der Sultan Saladin zu Nathan: 

"Ich meines Bruders Kinder nicht erkennen? Ich meine Neffen – meine Kinder nicht? Sie nicht erkennen? ich? Sie dir wohl lassen? (Wieder laut.)  Sie sinds! sie sind es, Sittah, sind! Sie sinds! Sind beide meines ... deines Bruders Kinder! (Er rennt in ihre Umarmungen.)"

Das lässt Raum für die Interpretation: Gerade weil Nathan den muslimischen Sultan und den christlichen Tempelherrn von der Idee der Toleranz überzeugen will, verliert er darüber seine Tochter (das Kind, das er angenommen hatte, nachdem seine sieben Söhne verloren hatte) an die Vertreter der beiden anderen Hauptreligionen.

In einer Inszenierung aus dem 20. Jahrhundert wurde - aufgrund der Erfahrung des Holocaust, die Lessing nicht hatte - die Szene so dargestellt: Alle umarmen sich. Nathan steht allein. Hinzu kam eine Inszenierungsbesonderheit, an die ich mich gegenwärtig nicht genau besinne (ich habe aber ein Aufnahme der Inszenierung), wo vor Beginn und nach dem Schluss des Stückes schemenhafte Kamele über die Bühne schreiten, ein Sinnbild für das "Gottesvolk", die ewig heimatlosen Juden?

Könnte Lessing wirklich eine Deutung zugelassen haben, dass Nathan letztendlich verliert, gerade weil er für Toleranz ist?

Er war mit Moses Mendelssohn befreundet und hatte erlebt, dass dieser heftig angegriffen wurde, weil er nicht bereit war, zum Christentum überzutreten. (Rechtfertigen könne er das nur, wenn er das Christentum in aller Form widerlegen könne.) Dazu heißt es in der Wikipedia: 

"1771 erlitt Mendelssohn, wahrscheinlich im Zusammenhang mit diesen Anstrengungen, einen psychophysischen Zusammenbruch, der ein zeitweiliges Aussetzen jeglicher philosophischen Tätigkeit erzwang. Die im selben Jahr vorgeschlagene Aufnahme Mendelssohns in die Preußische Akademie der Wissenschaften auf Antrag von Johann Georg Sulzer, dem Präsidenten der Philosophischen Klasse, scheiterte am Widerstand Friedrichs II."

Lessing schrieb seinen Nathan gewiss im Blick auf seinen Freund. Könnte er - nach außen nicht, wohl aber versteckt - nicht nur seiner Leistung, sondern auch seinen Leiden ein Denkmal haben setzen wollen? 

Nach dem Holocaust gibt es jedenfalls guten Grund, daran zu erinnern, dass den deutschen Juden ihr Beitrag zum deutschen Geistesleben (nicht nur Einstein!) nicht gedankt worden ist. Auch Juden, die sich als deutsche Patrioten verstanden, wurden Opfer des Holocaust.