Interpretationshypothese für das Gedicht,, Ich saug an meiner Nabelschnur ,, von Göthe?

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Das Gedicht beschreibt die Entfremdung Goethes von seiner Verlobten Lili Schönemann und zugleich das Gefühl des lyrischen Ichs, dass etwas Neues, Glückliches auf es zukommen wird. Goethe war von der Eleganz und dem souveränen Benehmen der (16-jährigen!) Bankierstochter sehr angetan, spürte aber bald, dass ihre Beziehung nicht von Dauer sein würde. Einerseits war sie ihm zu gesellschaftsbezogen, andererseits empfand er die Abneigung ihrer Mutter ihm gegenüber. Allerdings mit 80 Jahren gestand er einem befreundeten Gast:

„Lili war die erste, die ich tief und wahrhaft liebte, und vielleicht war sie auch die letzte.“ 

Als er auf einer Reise in die Schweiz seine Schwester besuchte, riet die ihm zur Trennung von Lili. Auf einer Fahrt auf einem See (Zürichsee?) entstand die erste Fassung des Gedichtes „Auf dem See“.

 

Deutliche Dreiteilung des Gedichtes:

Abschnitt 1, Strophe 1 und 2; regelmäßiger Wechsel von vierhebigen und dreihebigen Jamben (unbetonter Auftakt), mit jeweils männlichen Versschlüssen (Kadenzen)

Abschnitt 2 („Aug mein Aug - auch Leben ist“) In dieser Strophe abrupter Wechsel zum 4-hebigen Trochäus (Betonung auf der ersten Silbe, und zwar regelmäßig 4-hebig, aber mit zunächst weiblicher Kadenz, schließlich mit männlicher Kadenz: bist - ist).

Abschnitt 3 (ab „Auf der Welle blinken…“): Wieder ein Wechsel des metrischen Schemas: Alle Verse sind 3-hebig, jedoch zwischen zwei Trochäen je ein Daktylus (schwebende – türmende – beschattete – reifende). Die Verschlüsse sind viermal weiblich (blinken – Sterne – trinken - Ferne), dann zwei männliche Kadenzen: Bucht – Frucht.

Das Reimschema ist in den ersten beiden Strophen regelmäßiger Kreuzreim. In der dritten Strophe (2. Abschnitt) zweimal Paarreim. In der 4. Und 5. Strophe (dritter Abschnitt) wieder Kreuzreim.

Man kann von diesem formalen Schema auf die Intention des Gedichtes schließen:

Zunächst seelisch ausgeglichen (lyr. Ich), ruhiges Fließen der Verse (Regelmäßigkeit der metrischen Elemente). Nur die Metapher am Anfang (Nabelschnur) lässt Neues erwarten (wie ein Baby während der Geburt nimmt lyr. Ich die Welt wahr).

3. Strophe: es wird unruhig (durch Trochäen, unregelmäßige Versschlüsse, zwei Fragesätze, ein Ausruf. Elegische Erinnerungen an „goldene Träume“ (Lili): „Aug, was sinkst du nieder?“ Gewaltsames Verscheuchen der Träume: „Weg, du Traum! (von Lili); „hier auch Lieb und Leben ist.“ – Man könnte die Stimmung des lyr. Ichs mit der heutigen Redewendung umschreiben: Andere Mütter haben auch schöne Töchter!

In Strophe 4 und 5 wird das neue, das lyr. Ich belebende Gefühl durch eine Fülle positiver Sprachbilder (Metaphern) und durch die springlebendigen Daktylen sowie die unregelmäßigen Versschlüsse veranschaulicht.