Poseidon und Okeanos?

1 Antwort

In der Vorstellung der griechischen Mythologie gibt es eine zeitliche Abfolge und Okeanos ist ein älterer Gott als Poseidon. Nach der gewöhnlichen Darstellung der Abstammung ist Okeanos Poseidons Onkel.

In einer Urzeit, als Poseidon noch nicht geboren bzw. dann noch nicht ausgewachsen ist, kann Okeanos als mehr Macht über die Meere ausübend vorgestellt werden. Dabei wird nicht von einer förmlichen Herrschaftsübertragung erzählt, durch die Okeanos Meeresherrscher ist. Okeanos wird als Ursprung der Gewässer dargestellt, ist Stammvater zahlreicher Gottheiten (Göttinnen und Götter), steht für das Element Wasser. Bei den frühesten antiken griechischen Autoren ist Okeanos Personifikation eines riesigen Flusses, eines die Erde umfließenden Süßwasser führenden Stromes. Erst später wird der Okeanos-Strom zunehmend als Meer gedacht.

Nachdem Zeus, seine Brüder und sie unterstützende Gottheiten einen langen Kampf gegen Kronos und andere ihn unterstützende Titanen (bzw. auch noch gegen die Giganten und den ungeheuren Typhon/Typhoeus/Typhaon/Typhos [griechisch: Τυφών/Τυφωεύς/Τυφάων/Τυφώς]) gewonnen haben, teilen Zeus, Poseidon und Hades durch Auslosung Herrschaftsbereiche der Welt auf. Zeus bekommt die Herrschaft über den Himmel, Poseidon die Herrschaft über das Meer, Hades (auch Plouton/Pluton [griechisch: Πλούτων] genannt) die Herrschaft über die Unterwelt, während die Erde und der Olymp den Gottheiten gemeinsam sind.

Homer, Ilias Ο - 15. Gesang, Vers 190 - 194

Homer, Ilias : griechisch - deutsch ; mit Urtext, Anhang und Registern. Übertragen von Hans Rupé. 16. Auflage. Berlin : Akademieverlag, 2013 (Sammlung Tusculum), S. 505 (Poseidon spricht):

„Dreifach geteilt war alles, und jeder gewann seine Herrschaft:

Ich erlangte, für immer das schäumende Meer zu bewohnen,

Da wir losten, und Hades die düstere Schattenbehausung,

Zeus erhielt den geräumigen Himmel in Äther und Wolken.

Aber die Erde ist allen gemein und der hohe Olympos.“

Apollodor(os), Bibliotheke 1, 6 – 7

Apollodor, Bibliotheke : Götter- und Heldensagen. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Paul Dräger. Düsseldorf ; Zürich : Artemis & Winkler, 2005 (Sammlung Tusculum), S. 13:

„ (6) Nachdem Zeus aber herangereift ist, nimmt er Metis, die Tochter des Okeanos, als seine Helferin, die Kronos ein Mittel zum Verschlingen gibt, durch das jener, gezwungen, zuerst den Stein erbricht, darauf die Kinder, die er verschlungen hatte; mit ihnen trug Zeus den Krieg gegen Kronos und die Titanen aus. Aber als sie zehn Jahre lang kämpften, weissagte Ge Zeus den Sieg, wenn er die in den Tartaros Hinabgeschickten als Mitkämpfer habe. Der aber tötete Kampe, die ihre Fesseln behütete, und löste sie ‹aus den Fesseln›. (7) Und da geben die Kyklopen Zeus den Donner und den Blitz und den Wetterstrahl, Pluton die Hundsfellkappe, Poseidon den Dreizack; die aber, damit bewaffnet, überwältigen die Titanen, schlossen sie im Tartaros ein und setzten die Hekatoncheiren als Wächter ein. Sie selbst aber losen um die Herrschaft, und Zeus erlangt die Macht im Himmel, Poseidon die im Meer, Pluton die im Hades.“

Die Erlangung der Herrschaft über das Meer wird also nicht ausdrücklich so dargestellt, als ob Poseidon die Macht von Okenaos übernimmt. Es wird einfach von einer Aufteilung der Welt nach siegreichem Kampf erzählt, bei der Poseidon die Herrschaft über das Meer zufällt, ohne Erwähnung einer Vorgängers.

Nachdem Poseidon die Herrschaft über das Meer bekommen hat, beherrscht eher er das Meer als andere Meeresgottheiten, die es auch noch gibt.

Nach Hesiod, Theogonia (Θεογονία; Theogonie; lateinischer Titel: Theogonia) 881 – 885 wird Zeus nach dem siegreichem Kampf Götterherrscher und verteilt Ehrenrechte.

Hesiod, Theogonie : griechisch/deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger. Bibliographisch aktualisierte Ausgabe. Ditzingen : Reclam, 2018 (Reclams Universalbibliothek ; Nr. 9763), S. 67/69:  

„Als nun die seligen Götter den mühsamen Kampf be­endet und mit den Titanen um die Vorrechte gerungen hatten, da forderten sie nach Gaias Rat den weitblicken­den olympischen Zeus auf, König und Herrscher [885] der Unsterblichen zu werden. Er aber teilte ihnen alle Ehrenrechte nach Gebühr zu.“

Nach Darstellungen der griechischen Mythologie kommt es nach der Entstehung einiger Gottheiten am Anfang einer Urzeit zu einer Abfolge von drei Göttergenerationen, wobei ein Sohn den Vater stürzt/entmachtet und selbst die Herrschaft übernimmt (Sukzessionsmythos: Thema der Nachfolge). Ouranos/Uranos (griechisch: Οὐρανός) zeugt mit Gaia/Ge (griechisch: Γαῖα/Γῆ) unter anderem Kronos (griechisch: Κρόνος), der seinen Vater mit einem Sichelschwert entmannt und selbst Herrscher wird. Weil Kronos fürchtet, selbst von einem eigenen Kind entmachtet zu werden, verschlingt er seine mit seiner Schwester Rhea/Rhee/Rheia/Rheie (griechisch: Ῥέα/Ῥέη/Ῥεία/Ῥείη) gezeugten Kinder, zuerst Hestia, dann Demeter, dann Hera, dann Hades/Pluton, danach Poseidon. Statt seines Sohnes Zeus wird ihm ein in Windeln gewicketer Stein gereicht. Als Zeus erwachsen ist, bringt er Kronos dazu, den Stein und die verschlungenen Kinder zu erbrechen und siegt zusammen mit seinen Geschwistern in einem Kampf gegen Kronos und andere Titanen (Apollodoros, Bibliotheke 1, 4 – 7). Es gibt neben der gängigen Darstellung auch Erzählungen, Poseidon sei zur Insel Rhodos in Sicherheit gebracht worden und den Telchinen zum Aufziehen übergeben worden (Diodor(os), Bibliotheke historike [Βιβλιοθήκη ἱστορική; Historische Bibliothek; lateinischer Titel: Bibliotheca historica] 5, 55 bzw. Poseidon sei in einer Herde weidender Lämmer versteckt worden und Kronos zum Verschlingen ein Fohlen gereicht worden (Pausanias 8, 8, 2).

Poseidon (griechisch: Ποσειδῶν; homerisch: Ποσειδάων; weitere etwas abweichende Namensformen in verschiedenen altgriechischen Dialekten) gehört zur dritten Generation in diesem Sukzessionsmythos, Okeanos zur zweiten Generation.

Okeanos hat Macht und große Kraft, aber keiner der Flußgötter kann erfolgreich gegen Zeus kämpfen, auch Okeanos nicht, der Blitz und Donner des Zeus fürchtet (Homer, Ilias Φ - 21. Gesang, Vers 190 – 199).

Okeanos hat seine Schwester Tethys als Frau. Okeanos wird gewöhnlich zu den Titanen gezählt und ist ein Bruder des Gottes Kronos, der zeitweise die Herrschaft als oberster Gott hat. Okeanos beteiligt sich nicht an dem von Kronos angeführten Aufstand gegen Uranos/Ouranos und hilft Kronos nicht im Titanenkampf, sondern tritt auf die Seite von Zeus, auch wenn er nicht direkt persönlich kämpft (Okeanos und Tethys nehmen z. B. in dieser Zeit Hera zum Schutz in ihren Palast).

Okeanos ist ursprünglich Personifikation eines riesigen Flusses (wie er selbst griechisch Ὠκεανός genannt), eines Weltstromes, der die Erde an ihren Rändern ringförmig umfließt (und damit im Kreis in sich zurückfließt). Sein Bereich liegt an den Grenzen der bewohnten Welt. Nach einer Vorstellung (Homer, Ilias Φ - 21. Gesang, Vers 195 – 197) entfließen aus Okeanos alle Flüsse, Meere, Quellen und großen Brunnen. Ein rings die Erde umfließender Fluß konnte Okeanos strenggenommen nur bei einer Vorstellung von der Erde als Scheibe sein. Als eine (annähernde) Kugelgestalt der Erde sich als Vorstellung durchsetzte und griechische Seefahrer (z. B. Pytheas und Nearchos) bis in den Atlantik und in den Indischen Ozean fuhren, war eine Vorstellung von einem Süßwasser führenden Strom an den Rändern der Erde nicht mehr gut aufrechtzuerhalten. So wurde der Okeanos-Strom zunehmend als Meer gedacht (und Ozean ist eine Bezeichnung für ein großes Meer).

Es gibt in der griechischen Mythologie mehrere Kosmogonien (Darstellungen zur Entstehung der Welt/des Kosmos). Eine Kosmogonie setzt an den Anfang Gottheiten, die eine Verbindung mit Wasser haben. Nach Homer, Ilias Ξ - 14. Gesang, Vers 201, Vers 246 und Vers 302 ist Okeanos (zusammen mit Tethys, die als Mutter der Gottheiten bezeichnet wird) Ursprung der Gottheiten und Ursprung von allem.

Gewöhnlich ist Okeanos Sohn der Göttin Gaia und des Gottes Uranos/Ouranos, z. B. Hesiod, Theogonia (Θεογονία; Theogonie; lateinischer Titel: Theogonia) 132 – 133; Apollodor(os), Bibliotheke 1, 2; Diodor(os), Bibliotheke historike [Βιβλιοθήκη ἱστορική; Historische Bibliothek; lateinischer Titel: Bibliotheca historica] 5, 66, 2 – 3; Hyginus, Fabulae, Praefatio.

In der orphischen Theogonie (Darstellung zu Entstehung/Werden der Gottheiten) ist Okeanos anscheinend in der zeitlichen Reihenfolge ziemlich früh. Der orphische Hymnus 83 ruft ihn als den an, von dem zuerst Gottheiten und Menschen entstanden. Nach einer orphische Theogonie parodierenden Textstelle bei Aristophanes, Ornithes (Ὄρνιθες; Die Vögel; lateinischer Titel: Aves) 701 -702 entstehen Uranos/Ouranos, Okeanos und Ge (Erde) und alle seligen Gottheiten, nachdem es Chaos, Nyx (Nacht), Erebos (Dunkelheit) und Tartaros gab und Nyx (Nacht) ein Ei gebar, aus dem Eros hervorging, der in Vereinigung mit Chaos das Geschlecht der Vögel hervorbrachte.

Es gibt in der griechischen Mythologie einige weitere Meeresgötter, die sehr alt sind.

Pontos (griechisch: Πόντος), von der Göttin Gaia geboren (Hesiod, Theogonia [Θεογονία; Theogonie; lateinischer Titel: Theogonia] 131 – 132), ist eine Personifikation des Meeres.

Ein ursprünglich ohne Eigennamen nur „Meergreis/Alter des Meeres“ (griechisch: ἅλιος γέρων [halios geron]) genannter alter Meeresgott wurde danach verhältnismäßig früh mit den Meeresgöttern Nereus, Proteus, Phorkys und Glaukos gleichgesetzt (Merkmale sind hohes Alter, Weissagekunst und Verwandlungsfähigkeit).

Lina24293 
Fragesteller
 20.02.2020, 18:14

Danke ❤

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