Reflexionen zum Kryptozeitalter
Ich freue mich auf Kommentare von Befürwortern und Kritikern von Kryptowährungen: Inwiefern lassen sich die dargestellten Gedanken widerlegen oder erweitern? Die Begeisterung für das dezentralisierte Finanzwesen ist voreilig und letzten Endes fehl am Platz. Der rasante Anstieg von Bitcoin, Ethereum, Dogecoin und tausenden anderen Kryptowährungen seit 2010 ist lediglich Ausdruck des kollektiven Vertrauensverlusts in die Fähigkeiten der Staaten, die von ihnen ausgegebenen Währungen zu decken. Doch wer Kryptowährungen als legitimes Zahlungsmittel anerkennt, schafft einen gefährlichen Präzedenzfall, der mit großer Wahrscheinlichkeit kläglich scheitern wird. Fabio Panetta, Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank, gab im Dezember 2021 eine ernüchternde Einschätzung ab: Trotz der erheblichen Summen, die im Spiel sind, gibt es keinen Hinweis darauf, dass Kryptoanlagen gesellschaftlich oder wirtschaftlich sinnvolle Funktionen übernehmen oder in Zukunft übernehmen werden. Sie werden weder im Einzel- noch im Großhandel verwendet, sie bezahlen weder Konsum noch Investitionen, und sie spielen keine Rolle im Kampf gegen den Klimawandel. Die Bezeichnung ‚Kryptowährung‘ ist im Übrigen irreführend. Den Blockchain-Konstrukten fehlen fünf Eigenschaften, die eine Währung ausmachen: Erstens sind echte Währungen Verrechnungseinheiten, das heißt: Mit ihrer Hilfe legen Anbieter die Preise von Waren, Dienstleistungen und Anlagen aller Art fest. Angesichts der extremen Kursschwankungen der Kryptowährungen sind Anbieter dazu jedoch nicht in der Lage. Selbst Krypto-Konferenzen kassieren ihre Teilnahmegebühren nicht in Kryptowährungen, weil ein plötzlicher Kurssturz die Veranstalter in den Ruin stürzen könnte. Auch Kredite setzen eine stabile Verrechnungseinheit voraus. Sollte jemand eine Hypothek aufnehmen, deren Kreditsumme und Zinszahlungen in Bitcoin vereinbart werden, dann würde sich die Hypothek mit jedem Kursanstieg real verteuern. Irgendwann wären die Raten nicht mehr bezahlbar – der Gläubiger verliert sein Geld, und der Schuldner sein Haus. Zweitens ist eine echte Währung ein skalierbares und allgemein verwendetes Zahlungsmittel. Da Bitcoin und Ethereum gewaltige Rechnerkapazitäten verschlingen, lassen sie zurzeit weniger als ein Dutzend Transaktionen pro Sekunde zu. Das Visa-Netzwerk hat dagegen eine Kapazität von 50.000 Transaktionen pro Sekunde. Der Proof of Work – ein Algorithmus, der in jede Blockchain-Transaktion eingeschrieben wird, um die Gültigkeit einer Transaktion zu bestätigen – mag zwar Vertrauen herstellen, doch er verlangsamt sie auf Schneckentempo. Drittens zeichnen sich echte Währungen dadurch aus, dass sie eine stabile Wertanlage sind, das heißt, dass ihr Wert keinen extremen Ausschlägen ausgesetzt ist. Ersparnisse werden verzinst, bis sie abgehoben werden, und sollten nicht von einem Tag auf den anderen durch überraschende Kursveränderungen gefährdet werden. Kryptowährungen mit ihren extremen Kursschwankungen werden dieser Anforderung nicht gerecht. Viertens sollte eine Währung auch im Verhältnis zu den Preisen von Waren und Dienstleistungen eine stabile Wertanlage darstellen. Sonst hat die Währung eine instabile Kaufkraft und ist eine unzuverlässige Form der Wertanlage. Wenn der Bitcoin binnen weniger Tage um zehn oder zwanzig Prozent steigen oder fallen kann, dann ist er keine sinnvolle Währung zum An- und Verkauf von Waren und Dienstleistungen. Fünftens besteht der Wert einer Währung darin, dass sie einen Standard bietet – wie Wirtschaftswissenschaftler es nennen: einen Maßstab, mit dem sich der Wert aller Waren und Dienstleistungen zuverlässig miteinander vergleichen lässt. In der Steinzeitwelt von Fred Feuerstein waren die Muscheln das Wertmaß, mit dem sich der Wert von Steinwerkzeugen und Dinostaubsaugern miteinander vergleichen ließ. In der wirklichen Welt des 20. Jahrhunderts machte die Konferenz von Bretton Woods den Dollar zum globalen Wertmaß, als sie den Wechselkurs auf 35 Dollar pro Feinunze Gold festlegte. Der Wert anderer Währungen wurde als Vielfaches oder Bruchteil des US-Dollars angegeben. Solange der US-Dollar als Standardrichtmaß dient, können Verbraucher den Preis von einem Kilogramm Zucker in Chicago, Pretoria und Kuala Lumpur vergleichen. Und in jedem Land ist die Landeswährung die Verrechnungseinheit und das Standardrichtmaß für alle Waren, Dienstleistungen und Transaktionen. Doch in der Kryptowelt der Tokenisierung , in der ich eine Limo-Münze brauche, um eine Limo zu kaufen, und eine Kartoffel-Münze, um Kartoffeln zu kaufen, kann ich den relativen Wert nicht ermitteln. Das heißt: In vielfacher Hinsicht war die Währung der Feuersteins fortschrittlicher als die Kryptowährungen. Auch in der Kryptowelt muss der Dollar als Vergleichswert herhalten. Ohne diesen Maßstab lässt sich der Wert von Bitcoin, Ethereum, Dogecoin und wie die Kryptowährungen alle heißen mögen, nicht miteinander vergleichen – und zur Festlegung von Preisen für Waren und Dienstleistungen sind sie schon gar ...