Kann mir jemand diesen Text erklären? (Eine Untersuchung der Prinzipien der Moral-David Hume)

6 Antworten

Nun, es geht um die Frage: Was treibt uns an, moralisch zu handeln? Der Verstand ist ein "Kalkulationsmechanismus", der das augenblickliche bewertet. Die Vernunft greift auf umfassendere Einsichten zurück, bleibt aber halt nur ein so erweiterter "Kalkulationsapparat". Was uns zudem treibt und lockt sind die Emotionen, kommt aber im zitierten Abschnitt nicht zur Sprache. Die Vernunft weist uns eigentlich nur den Weg, dem die Emotionen folgen sollten. Die Emotionen in einer "idealen Ausbildung" nennt man auch Tugenden. Das große Thema der Antike von Aristoteles bis Marc Aurel war, wie man in einer guten Erziehung die Tugenden anerziehen kann, wie man die Emotionen stabil formen kann, dass sie im Zusammenspiel mit der Vernunft zu einem gelingenden Leben führen. Das ist - im Gegensatz zu Kant, der ausschließlich auf die Vernuft setzt - auch die Einstellung von David Hume und seines Freundes Adam Smith. Für beide hat Moral einen persönlichen UND einen gesellschaftlichen Charakter. In der persönlichen Erfahrung, in der Erziehung und im gesellschaftlichen Umfeld erhält jeder Mensch einen emotionalen Kompass, der ihn im besten Falle antreibt, den Einsichten der Vernunft zu folgen. Vernunft allein kann auch der Verbrecher haben, wenn er die verschiedenen Einsichten mit einer Risikokalkulation verbindet.

Zum Verstehen kann es hilfreich sein, die Gedanken der Textstelle auf den größeren Gedanken im Zusammenhang des Werkes insgesamt zu beziehen.

David Hume hat zu Anfang der Untersuchung schon die Frage gestellt, ob die allgemeine Grundlage der Moral auf Verstand/Vernunft (reason; in der englischen Sprache gibt nicht eine entsprechende Unterscheidung zweier Wörter) oder Gefühl (sentiment) beruht.

Humes Auffassung nach kann Moralität nicht aus Verstand/Vernunft allein abgeleitet werden. Hume meint, für menschliche Handlungen seien ausschließlich Affekte (passions) motivierend. Affekte sind Gefühle oder haben zumindest einen Bezug auf Gefühle. Affekte ergeben sich aus Sinneseindrücken oder Vorstellungen oder durch Sinneseindrücke aus anderen Affekten. Direkte Affekte sind unmittelbar durch Lust/Freude/Vergnügen (pleasure) und Schmerz/Unlust (pain) bzw. Unlust/Mißvergnügen (uneasiness) verursacht (eine Schmerzempfindung bewirkt das direkte Begehren, diesem Schmerz zu entgehen). Indirekte Affekte ergeben sich aus einer Vorstellung (der Gedanke an Schmerz kann den Affekt bewirken). In ausreichender Stärke vorhandene Affekte führen nach Humes Theorie mit Regelmäßigkeit zu bestimmten Handlungen.

Verstand/Vernunft kann nach seiner ethischen Theorie nur Gelegenheit zu einem Affekt geben oder einem Affekt die Richtung weisen. Verstand/Vernunft kann nach Humes Auffassung Affekte nur indirekt beeinflussen, indem sie die Folgen einer Handlung einschätzt und zusätzliche zweckmäßige Informationen zur Verfügung stellt.

Die Textstelle beginnt mit einer Aussage zur Rolle von Verstand/Vernunft bei moralischen Unterscheidungen. Verstand/Vernunft kann über nützliche oder schädliche Folgen von Charaktereigenschaften und Handlugen informieren/Auskunft geben und möglicherweise gelingt diese Aufklärung sogar mit Notwendigkeit, wenn Verstand/Vernunft alle erforderlichen Informationen hat und vollständig entwickelt ist. Doch die Rolle von Verstand /Vernunft bei moralischen Unterscheidungen ist begrenzt. Sie allein reicht nicht aus/genügt nicht, die in Lob und Tadel enthaltenen moralischen Unterscheidungen hervorzurufen/auszulösen.

Das Kriterium/der Maßstab des Nutzens (ob etwas nützlich oder schädlich ist) ist nach Humes Auffassung für moralische Unterscheidungen eine wichtige Grundlage. Nützlichkeit bedeutete, eine Ausrichtung/Tendenz zu einem Ziel/Zweck zu haben. Verstand/Vernunft beschreibt Dinge und Ursachen und Folgen und informiert über Zusammenhänge von Zielen/Zwecken und Mitteln (welche Mittel geeignet/angemessen sind, um ein Ziel/einen Zweck zu erreichen). Verstand/Vernunft nehmen aber nach Humes Auffassung keine Bewertung vor. Verstand/Vernunft allein kann nicht in Bewegung setzen, sondern erst durch Gefühl entsteht eine Motivation, Mittel zu ergreifen und Ziele anzustreben, indem das Nützliche des Schädlichen vorgezogen wird. Gefühl ist notwendig, damit den Menschen nicht Ziele/Zwecke und Mittel gleichgültig sind und sie nicht handlungsunfähig sind.

Moralische Unterscheidungen treffen eine Unterscheidung zwischen lobenswert (gut) und tadelnswert (schlecht). Was Lob hervorruft, wird Tugend (virtue) genannt, was Tadel hervorruft, wird Laster (vice) genannt. Tugenden erwecken bei einem Betrachter/Beobachter Wohlwollen, weil sie als Eigenschaften wahrgenommen werden, die Glück bewirken, zu eigenem Wohlergehen und dem anderer beitragen. Tugenden werden als angenehm und nützlich wahrgenommen, Laster als unangenehm und schädlich. Die Unterscheidung zwischen Tugend und Laster beruht nach Humes ethischer Theorie auf dem Gefühl der Billigung bzw. Mißbilligung.

Es gibt eine gefühlsmäßige Bezogenheit der Menschen aufeinander, die Hume für wesentlich für moralische Urteile/Bewertungen hält. Sie bewirkt einen angenehmen Eindruck bei nützlichen Tendenzen und einen unangenehmen Eindruck bei schädlichen Tendenzen. Auf diese Weise ergibt sich Billigung und Mißbilligung. Die moralische Bewertung gründet also auf der Wahrnehmung von Nützlichkeit (utility). Diese Bewertung wird durch die angenehme emotionale Gestimmtheit ausgelöst, die auf eine solche Wahrnehmung unmittelbar folgt. Aus der Einsicht der Menschen in die Vorteile gegenseitiger Zusammenarbeit (Erfahrung der Nützlichkeit) können soziale Tugenden (z. B. Gerechtigkeit bzw. Rechtssinn, Verläßlichkeit und Loyalität) erlernt werden. Das ursprüngliche moralische Gefühl der spontanen Freude an allem, was menschliche Gemeinschaft fördert, nennt Hume unter anderem Menschlichkeit (humanity).

Albrecht  13.04.2014, 08:38

Es gibt in Humes Ethik eine Mitwirkung von Verstand/Vernunft an moralischen Urteilen, indem er/sie über nützliche und Tendenzen belehrt/informiert, aber Verstand/Vernunft hat insofern eine untergeordnete Rolle, als die Ziele nicht von Verstand/Vernunft vorgegeben werden, sondern die Bewertung von Zielen bei Gefühlen/Empfindungen/Emotionen/Affekten liegt. Entsprechend wird das Treffen der Entscheidung in der Textstelle einem Gefühl, nämlich der Menschlichkeit zugeordnet.

Der Wille ist nach Humes Theorie nur ein innerer Eindruck, der menschliche Handlungen begleitet. Eigentliche Ursache seien von einem Wunsch oder Begehren/Verlangen begleitete Affekte.

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Gestern ging es bei einer Frage auch um das Thema Vernunft und da führte ich aus, das Platon da sehr schöne Gedanken zu formuliert hat. Und das passt auch nun sehr schön zu Deiner Frage und dem Verstehen des Textes.

Die Antworten von @berkersheim und @Luckyluke00 erklären es schon sehr schön!

Folgendes passt als Ergänzung evtl. gut dazu und kannst Du evtl. in Deiner schulischen Ausarbeitung, falls Du so etwas machen musst, zusätzlich gebrauchen.

Platon führte aus, dass die Freiheit einer Entscheidung in ihrer Vernünftigkeit liegt. Wenn unsere Vernunft das Göttliche mit einbezieht, sich also auf Gottes Schöpfungsordnung und Seinen Willen ausrichtet und daheraus alles begründet, dann lenken wir unsere freie Entscheidung in der Ausrichtung auf Gott und nehmen Teil an der göttlichen Vernunft und sind von dieser erfüllt.

In seinem Werk "Politeia" führt er den Gedanken weiter aus:

  • Im Individuum ist die Vernunft der Teil, der die Weisheit beisteuert und dem daher die Herrschaft gebührt. Der muthafte Seelenteil verfügt über die Tapferkeit und hat die Wächterfunktion auszuüben. Ihm fällt die Aufgabe zu, in Schmerzen und Freuden unbeirrt an dem festzuhalten, was die Vernunft als richtig erkannt hat. Das Begehrungsvermögen als niedrigster Teil entspricht dem Stand der Bauern und Gewerbetreibenden im Staat. Es hat sich freiwillig unterzuordnen. Wenn dies geschieht, wird die Person als besonnen wahrgenommen. Damit lässt sich nun auch die Gerechtigkeit des einzelnen Menschen bestimmen: Sie besteht darin, dass in der Seele ebenso wie im gerechten Staat jeder Teil nur die ihm von Natur aus zukommenden Aufgaben erfüllt und keinerlei Übergriffe in fremde Kompetenzbereiche stattfinden. Dadurch steht alles dauerhaft in Einklang. Analoges gilt für den Körper: Dort wird die Gerechtigkeit Gesundheit genannt, die Ungerechtigkeit Krankheit. Daher kann man die Gerechtigkeit und allgemein die Tüchtigkeit oder Tugendhaftigkeit auch als Gesundheit der Seele bezeichnen. Die Tüchtigkeit oder das Gutsein (Arete) stellt eine Einheit dar, während es bei der Schlechtigkeit eine große Vielfalt von Arten gibt.

Unter weiter hierzu Platons Sonnengleichnis:

  • Wie im Bereich des Sichtbaren die Sonne das Licht spendet, so ist in der geistigen Welt das Gute die Quelle von Wahrheit und Wissen. Wie die Sonne die einzelnen Dinge bescheint und damit sichtbar macht, so strahlt die Idee des Guten gleichsam ein „Licht“ aus, das die Objekte geistiger Erkenntnis für die Seele wahrnehmbar macht. Diese geistige Sonne verleiht den Denkobjekten nicht nur ihre Erkennbarkeit, sondern auch ihr Dasein und ihr Wesen (Ousia). Alle Inhalte des Denkens, darunter auch die Tugenden, verdanken der Idee des Guten ihre Existenz.

und Platons Höhlengleichnis:

  • Das Höhlengleichnis soll den Sinn und die Notwendigkeit des philosophischen Bildungswegs, der als Befreiungsprozess dargestellt wird, illustrieren. Der Weg gleicht dem Aufstieg aus einer unterirdischen Höhle, die für die sinnlich wahrnehmbare Welt der vergänglichen Dinge steht, zum Tageslicht, das heißt zum rein geistigen Bereich des unwandelbaren Seins, zum Reich der Ideen. Die Menschheit befindet sich in der Höhle der Unwissenheit, in der die Wirklichkeit nur schattenhaft wahrgenommen werden kann. Es ist aber grundsätzlich möglich, die Höhle zu verlassen und zur Erdoberfläche emporzusteigen. Dort können die Dinge so erfasst werden, wie sie wirklich sind; man kann sogar die Sonne – die Idee des Guten – erblicken. Wenn man dies erreicht hat, kann man mit dem neu erlangten Wissen freiwillig wieder hinabsteigen, um den anderen den Ausweg zu zeigen.

    Der Aufstieg aus der Höhle versinnbildlicht die Aneignung philosophischer Bildung. Sokrates betont, dass dieser Vorgang nicht darin besteht, dass gleichsam Blinden die Sehkraft verliehen wird. Über die „Sehkraft“ verfügt jeder bereits. Erforderlich ist nur, dass sich die ganze Seele samt ihrem „Auge“ „umwendet“. Im Gleichnis bedeutet das, dass sie erst unter kundiger Anleitung den Ausgang der Höhle findet, dann den steilen Gang betritt, der nach oben führt, und sich schließlich an den Glanz des Tageslichts gewöhnt.

    Wer aus der Höhle an die Erdoberfläche gelangt ist, kann dort bleiben, ein glückliches Leben führen und die Höhlenbewohner ihrem Schicksal überlassen. Wenn er dennoch in die Höhle zurückkehrt, um den anderen zu helfen und als Führer zu dienen, nimmt er große Unannehmlichkeiten in Kauf. Er muss sich dann mit dem Unverständnis der Masse auseinandersetzen, wobei er sogar lebensgefährlichen Anfeindungen ausgesetzt ist. Eine Gegenleistung hat er von den Höhlenbewohnern nicht zu erwarten, denn sie haben nichts zu bieten, was für ihn einen Wert darstellen könnte. Daher ist die Rückkehr für ihn überhaupt nicht attraktiv.

    Platon, Politeia 506d–509c, 519b–521b

P.S.: Auch, wenn für Helfer der Gang in die Höhle nicht atraktiv ist, entscheiden sie sich aus Liebe zu den Menschen, die sie als ihre Brüder und Schwestern sehen, dennoch dafür.

Das Zitat bedeutet, dass aus der Vernunft allein keine Moral entspringen kann. Hume ist Gefühlsethiker: Für ihn braucht es immer ein bestimmtes Gefühl, um Ethik hervorzurufen. Er hat hierzu auch einmal gesagt, die Vernunft sei nur die Sklavin der Affekte.

Das liegt daran, und das sehen wir in diesem Text, dass Vernunft immer nur darauf konzentriert ist, die Realität zu analysieren und Tatsachen festzustellen. Aber aufgrund von Humes Gesetz ist es nicht möglich, aus Tatsachen allein auf Ethik zu schließen.

Deshalb braucht man das Gefühl, so Hume: Es setzt ein bestimmtes Ziel, das zu erreichen ist. Die Vernunft entscheidet dann, was zum Erreichen dieses Ziels führt, und was daher getan wird. Aber das Ziel setzt eben das Gefühl.

Um bei Humes Beispiel aus dem Text zu bleiben: Wir tun etwas, weil es uns nützt, weil unserer Vernunft uns sagt, dass es nützlicher ist als andere Handlungen. Aber das würden wir nicht tun,wenn wir nicht mit unseren Handlungen das Ziel von Nutzen für uns selbst verfolgen würden. Und dieses Ziel legt das Gefühl fest, nicht die Vernunft.

Klingt als sei Humes berüchtigte Sein-Sollen Lücke gemeint.

http://de.wikipedia.org/wiki/Humes_Gesetz

Ich denke, man kann es gut auf rein sprachlicher Ebene nachvollziehen: Auf der einen Seite hast du beschreibungen dessen, was der Fall ist. Wie "Verletzungen verursachen Schmerz." Auf der anderen Seite gibt es Beschreibungen dessen, was moralisch gut sei, wie "Es ist unmoralisch, jemanden mutwillig zu verletzen." Es scheint nun, als könne man einen Satz über Moral niemals aus einem Satz überphysikalische Sachverhalte ableiten.

Ob Hume damit Recht hatte ist allerdings noch Teil aktueller Debatten. Es gibt die Idee, diese Sein-Soll-Lücke mittels Teleonomie zu überbrücken, indem man psychologische Fakten mit einbezieht.