Wieso kann die Selbsterkenntnis (d.h. die Erkenntnis der eigenen Erkenntnisse) nicht zu den Erfahrungen gezählt werden (Kant)?

gottesanbeterin  19.12.2023, 14:35

Erkenntnisse erstrecken sich?

Ringtheoretiker 
Fragesteller
 19.12.2023, 20:07

Sie wissen das ein Begriff mehrere Bedeutungen haben kann, richtig? Schlagen Sie es nach.

1 Antwort

Ich bin kein "Kant-Experte", aber das, was ich von ihm las, gefiel mir nicht nur sehr gut, es ist eine Basis, auf die sich Gewillte einlassen und stärken können. Ich darf Dich zitieren: "Um Kant zu zitieren: "Die moralische Selbsterkenntnis ist aller menschlichen Weisheit Anfang". Recht hat er."

Ja, recht hat er. Zu 100 %. Vor Jahren las ich einmal, dass da, wo alle Philosophie endet, die Spiritualität beginnt. So ähnlich habe ich es in Erinnerung. Es gibt Bereiche, die mit Vernunft, mit Verstand und mit allem Wissen nicht zu beschreiben, nicht zu erfahren und nicht zu erfassen sind. Bedeutet es dann nicht (um auf Deine Frage einzugehen), dass es a) angeborene Erfahrungen zwar sehr wohl gibt, diese aber b) auch immer nur ein Bruchteil eines gigantischen Potentials sind, das nun einmal weit außerhalb unseres doch arg begrenzten Wahrnehmungsvermögens liegt. Selbsterkenntnis kann man erfahren, davon ist auszugehen, doch ist sie es noch nicht. Wäre dem so, sähe es - auf's RL und all' die Horror-News bezogen - nicht so aus, wie's derzeit ausschaut. Und doch! Wer sagt, dass diese Wende-Zeit nicht gut und sogar vonnöten ist, damit ein Wachwerden in Gang gesetzt wird (?), Kant kann ich also nur zustimmen (bei dem Wenigen, das ich von ihm las), aber wer - zum Kuckuck (!) - schafft's denn schon mit dem "Kategorischen Imperativ"? Manche müssen eben auf die heiße Herdplatte fassen, damit sie wissen, was heiß ist und wie es sich anfühlt. Vielleicht ist etwas Brauchbares für Dich dabei, ich schick's jetzt einfach mal rüber. Interessante Frage! Regt zum Nachdenken an!

Ringtheoretiker 
Fragesteller
 22.12.2023, 15:12
 Vor Jahren las ich einmal, dass da, wo alle Philosophie endet, die Spiritualität beginnt. So ähnlich habe ich es in Erinnerung.

Hallo, SerenSaethu. Die Kant'sche Transzendentalphilosophie zielt grundlegend darauf ab, die Erkenntnis innerhalb der physisch-sinnlichen Welt einzugrenzen. Kant zeigt durch sein Lehrgebäude, dass die Annahme einer Welt der Noumena (auch bekannt als: "Ding an sich") notwendig ist, da sonst eben eine Erklärungslücke entstehen würde wie genau es überhaupt sein kann, dass unsere Sinne affiziert werden und genau an Stelle X an der bspw. eine Flasche steht, etwas wahrnehmen müssen. Diese Grenze der Erkenntnis also ist, in dem Sinne, ja, der Anfang der Spiritualität.

Diese "Dinge an sich" können lediglich, laut Kant, als negative Noumena auftreten, d.h. sie können keine empirischen Objekte unserer Anschauung werden, sind uns also unzugänglich (da sie nicht in die reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit fallen und damit auch nicht in die Kategorien), aber sie können gedacht werden (und müssen es auch, will man die Erklärungslücke füllen). Wären sie anschaubar, so spräche man dann von "positivem Noumenon". Das Einzige, tatsächlich positive Noumenon, das wir von innen erleben können, das ist unser "Ich". Dinge an sich können generell also nur von "innen" erlebt werden, Anschauungen/Erscheinungen dagegen nur von außen.

Hier wird es interessant: In Kants Transzendentalphilosophie steckt ein entscheidender Fehler. Denn Kant setzt hier grundlos voraus, dass es tatsächlich eine Unterscheidung zwischen a priori und a posteriori Erkenntnisse gibt (was mich eben auch zu der Frage oben verleitete). Kant hat nämlich die Frage völlig offen gelassen woher denn die apriorischen Sätze, die universell gültig sind, überhaupt herkommen. Denn diese müssen eigentlich auch erst erfahren werden (und eben das passiert auch, nur eben anders; denn in ihnen liegt keine sinnliche, sondern eine rein geistige Erfahrung zugrunde, die unmittelbar in die geistige Wirklichkeit eintaucht).

Kant sieht darin nur leere Schemen während hier aber das eigentliche Wesen der Welt erscheint, welches sich der sog. "intellektuellen Anschauung" erschließt. Diese intellektuelle Anschauung hat Kant dem Menschen grundsätzlich abgesprochen, denn es handelt sich um eine Form der Anschauung, die eine Form der unmittelbaren Erkenntnis darstellt, die sich (im Gegensatz zur sinnlichen Anschauung) nicht durch einen äußeren und unabhängig vom Menschen existierenden Gegenstand hervorgerufen wird, damit auch unabhängig von den reinen Anschauungsformen und der Kategorien. Goethe, Fichte, Hegel, usw. haben dazu eine Menge geschrieben.

Dementsprechend kann also durch gewisse Schulung diese intellektuelle Anschauung erreicht werden. Dadurch werden eben auch andere Dinge an sich, außer dem Ich, uns zugänglich. Goethe hat dies schön demonstriert mit seiner "Ur-Pflanze". Man erlebt dadurch den Begriff der Pflanze nicht mehr als sinnliche Entität, sondern eben als eine rein geistige Erfahrung, die sich völlig vom sinnlichen loslöst. Mathematiker besitzen diese Fähigkeit bereits zu einem gewissen Grad, wenn sie sehr abstrakt denken (z.B. in der Gruppentheorie) und die Sinne kaum eine Rolle spielen.

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SerenSaethu  22.12.2023, 17:45
@Ringtheoretiker

Was Du da schreibst, das ist großartig (!) und so gut erklärt, dass selbst ein Laie wie ich das versteht, wobei Irrtümer meinerseits nicht auszuschließen sind. Vielen lieben Dank für Deine Mühe!

Paganini soll gesagt haben, dass das, was er "im Außen spielt", nur eine blasse Spiegelung dessen ist, was "in ihm drin" gespielt wird. Sein Instrument, seine Kunst- & Fingerfertigkeit und all' sein brillantes Können genügten nicht im Ansatz dem, was "ES" in ihm spielt. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Einige Künstler sag(t)en ebenfalls, dass das, was sie (er-)schaffen, nicht an das heranreicht, was als Vision, Eingebung, Impuls - wie auch immer - in ihrer Seele heranreifte und zum Ausdruck gebracht werden wollte.

An anderer Stelle las ich, dass es nichts - wahrlich gar nichts - gibt, das nicht spirituellen Ursprungs ist. Ausnahmslos alles wurde aus der Spiritualität geboren und ist lediglich eine (grobe) Materialisation dessen, was geistigen Ursprungs ist. Das wäre nun ein Erklärungsansatz für mich, warum wir mit unseren begrenzten Wahrnehmungsmöglichkeiten zwar alles "Grobe" erfahren, erfassen und als gegeben annehmen, doch schließt das nicht aus (so sehe ich das), dass das grobe Erscheinungsbild tatsächlich nur ein Bruchteil dessen ist, was den eigentlichen Schöpfungsakt ausmacht. Für mich macht Kant keinen Fehler, er kann (oder möchte?) die Lücke nicht schließen und (vielleicht?) nicht zulassen, dass nicht ausnahmslos alles über Vernunft, Verstand, Logik und Wissen zugänglich ist.

Unmittelbar nachvollziehbar ist Dein Hinweis auf Mathematiker. Ja. Das verstehe ich zu 100 %. Eine - für mich jedenfalls - unverständliche Formel ist für einen Geschulten ein Tor zu einer Gedankenwelt, die umwerfend sein muss. Das sind Bilder, An- & Aussichten, die a) unwiderlegbar unzweideutig sind und b) eine Einladung zum Nachdenken über tatsächlich "Gott und die Welt" bedeuten (können). Ein Feuerwerk für den Verstand also bzw. für alle, die damit vertraut sind und diese gedanklichen Schöpfungsakte lieben.

Ich (taube Nuss) kann nicht einmal mit einer Logarithmen-Tafel umgehen, dafür kann ich immer wieder "Good Will Hunting" anschauen und mich restlos dafür begeistern, dass dieser vernachlässigte Junge in seinem alten T-Shirt mathematische Zaubereien vollbringt, von denen ich nicht einmal im Ansatz eine Ahnung habe. Es gibt diese Begabten. In jedem Themenbereich. Und nur weil ich damit nicht vertraut bin, heißt das noch lange nicht, dass ich das Gesamtbild nicht verstehe. Das tu' ich sehr wohl. Okay. Nicht immer. Aber darüber reden wir dann ein ander' Mal.

Ich habe fertig. 😉🙏🧡

Ganz herzlichen Dank jedenfalls noch einmal für Deine hervorragende Erklärung, sie ist sehr gut. Vielleicht ist nun etwas Brauchbares von meiner Seite her dabei, ich schick's jetzt einfach mal rüber. Liebe Grüße aus den lausekalten Niederlanden kommen von Seren

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