Die Aussage, Latein sei eine „tote Sprache“ ist nur eine Floskel. Ich weiß auch nicht, welche Befriedigung es Leuten verschafft, das Interesse anderer auf diese Art kleinzureden. Vielleicht ahnen sie, dass ihnen doch etwas entgehen und der Lateinunterricht durchaus auch für sie nützlich sein könnte, trauen es sich aber einfach nicht zu? Jedenfalls ist diese Behauptung aus meiner Sicht genau so unsinnig, als würde man sagen, Autos seien nutzlos, weil sie nicht fliegen können.
Denn niemand lernt heute noch Latein oder Altgriechisch, um es hinterher zu sprechen! Als ob es allein darum ginge! Der Unterricht erfolgt vielmehr „passiv“, d.h. es geht rein um das Verstehen.
Unsere europäische Kultur gründet zu einem gewichtigen Teil auf der griechischen und römischen Antike. Wenn wir diesen Zeitraum spätestens im 8. vorchristlichen Jahrhundert beginnen und mit dem Ende des byzantinischen Reiches, also mit der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 enden lassen und berücksichtigen, dass Latein als Amts- bzw. Dokumentationssprache noch bis ins 18. Jahrhundert üblich war, so haben wir einen Zeitraum von etwa 2500 Jahren, der unser heutiges Leben mehr geprägt hat als alles andere. Grund genug, darüber zu lehren und daran zu forschen, zumindest, so lange noch immer wieder neue Funde und schriftliche Dokumente ans Tageslicht kommen. Der Lateinunterricht vermittelt - ebenso wie das Altgriechische - nicht nur die Sprache, sondern als universelles Bildungsfach auch die gesellschaftlichen Grundlagen der Antike, ihre philosophisch-geistigen Strömungen, rechtliche Normen, geschichtliche Zusammenhänge und religiöse Aspekte. Er deckt ein immens interessantes, riesiges Wissensgebiet ab! Zusätzlich gibt er dem Spracheninteressierten wertvolle, zusätzliche Einblicke, die dem Verständnis anderer romanischer Sprachen und auch für das Deutsche dienlich sind. Dies ist für mich nicht bloß Expertenwissen, dass ausschließlich an eine Hochschule gehört, sondern ich betrachte es bis zu einem gewissen Grad als Allgemeinwissen, wie es grundsätzlich an europäischen Gymnasien gelehrt werden sollte.
Es existieren viele tausende Dokumente und Inschriften, die in Latein oder in Altgriechisch verfasst sind, und ständig werden neue entdeckt. Diese Dokumente müssen gelesen und verstanden werden. Natürlich kann man das irgendwann auch der KI überlassen, aber wer garantiert uns dann, dass sich die KI nicht irrt? Und gälte dieses Argument dann ohnehin nicht auch für beinahe jeden anderen Wissensbereich? Es muss Menschen geben, die diese Sprachen noch verstehen können, und man lernt bekanntlich am besten, solange man jung ist!
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man mit Latein und Altgriechisch quasi sein eigenes Fremdwörterlexikon im Kopf hat. Ich erinnere mich an den Anatomieunterricht in meiner Ausbildung, als der Dozent, ein Professor für Neuropathologie, in der ersten Unterrichtsstunde als allererstes in die Runde fragte, wer von uns denn alte Sprachen gehabt habe. Mir wurde schnell klar, warum, denn ich hatte daraufhin keinerlei Probleme, mir die lateinischen und altgriechischen medizinischen Fachausdrücke zu merken und sie zu verstehen, während sich andere damit regerecht abquälen mussten.
Es gibt für mich ein weiteres Argument, warum ich froh bin, Latein und Altgriechisch gelernt zu haben, und das ist für mich persönlich das wichtigste: Es interessiert mich einfach! So, wie sich andere für Autos, Fußball oder Popmusik interessieren, interessiere ich mich für Sprachen, einschließlich eben dieser alten Sprachen. Es macht mir einfach Spaß, und ich hatte noch nie auch nur eine Sekunde lang das Gefühl, mich dabei für etwas nutzloses zu interessieren. Mir verschafft es Freude, den sprachlichen bzw. grammatikalischen Hintergrund von Wörtern wie „Dozent“, „Professor“, „Neuropathologie“ oder „Anatomie“ zu kennen und zu wissen, woher solche Begriffe kommen und was sie eigentlich bedeuten.
Merkwürdig, wenn jemand ägyptische Hieroglyphen entziffern kann, nicken viele meist anerkennend, dabei werden diese seit bald 2000 Jahren gar nicht mehr verwendet. Latein und Altgriechisch begegnet einem in adaptierter Form aber ständig und überall, da ist es dann aber bloß „tote Sprache“ ...