Ich habe vor etwa einem Jahr eine richtig gute Freundin im Internet gefunden. Jedenfalls dachte ich das. Wir konnten uns super austauschen, mochten dieselben Filme und Bücher, standen auf dieselben Schauspieler, liebten beide Tiere, ritten beide, hatten ähnliche Zukunftsträume, dieselben Hobbys, sogar einen vergleichbaren Bildungsstand, waren in denselben Ländern auf Urlaub. Der Altersunterschied von fast zehn Jahren schien nicht zu stören. Eigentlich fast zu gut, um wahr zu sein; lebenslange Freundschaften haben schon mit weniger angefangen. Ich dachte, da könnte etwas richtig Tolles draus werden, hoffte sogar, wir könnten uns eines Tages gegenseitig besuchen. Selten findet man jemanden, mit dem es auf Anhieb so gut passt. Und wir schrieben auch beide gerne, beste Vorausetzungen also für eine feste Internetbekanntschaft.
Dann fingen wir an, Fotos auszutauschen. Ich weiß nicht, ob es daran liegt; jedenfalls habe ich seitdem nichts mehr von ihr gehört. Seit fast einem halben Jahr kein Wort mehr. Ich habe ihr Zeit gelassen, sie nicht bedrängt, eine Weile gewartet, bis ich anfing, nachzufragen. Bin ich in einen Fettnapft getreten, und sie schweigt beleidigt? Hat sie einfach kein Interesse mehr und genug andere Freunde? Gefällt ihr etwas an meinem Äußeren nicht? Fängt ihr Freund ihre Mails ab? Oder - sehr unwahrscheinlich, aber natürlich immer möglich - hat sie gar einen Unfall gehabt und lebt gar nicht mehr?
Das schlimme ist, wenn sie sich nicht mehr meldet, werde ich es nie erfahren! Ich kann nicht einfach wie im "echten Leben" anrufen und nachhaken oder zu ihr fahren und fragen, was um Gottes Willen plötzlich los ist! Und das ist eben der große Nachteil an solchen Freundschaften. Man weiß nicht genau, woran man ist, muss mühsam zwischen den Zeilen lesen, und am Ende kann man sich doch täuschen. Oder derjenige lässt einen einfach hängen, weil er nicht befürchten muss, dass das jemals auf ihn zurückfällt. Und wenn man dann was investiert hat, tut es kaum weniger weh, als wenn man denjenigen in natura verloren hätte.
Vielleicht habe ich ja noch Glück, und alles klärt sich auf. Aber ich habe auf jeden Fall was gelernt - eine Internetfreundschaft besitzt den hohen Unsicherheitsfaktor, dass man für denjenigen eben doch nicht mehr ist als ein gesichtsloser Zeitvertreib, den man ohne schlechtes Gewissen abschieben kann, wenn man keine Lust mehr hat. Es gibt sicher auch Ausnahmen, da bin ich fest von überzeugt. Aber sie zu finden ist wohl Glückssache.
Der Versuch lohnt sich auf jeden Fall, aber man sollte nicht die gleiche Erfüllung davon erwarten wie aus einer "echten" Freundschaft.