Hallo,
Was du schreibst kommt mir sehr bekannt vor. Ich bin inzwischen Mitte dreißig und mache dieses Spiel (großes Potenzial in mir fühlen, meine Aufgabe suchen, verkrampft sein und nichts erreichen, depressive Tiefpunkte, mich allein fühlen) schon etwa seit Anfang zwanzig mit.
Mit den Jahren ist mehr Bewusstsein dafür gewachsen, was da eigentlich abläuft in mir und mir ist die ein oder andere Erkenntnis dazu gekommen.
Ich bin übrigens in medizinischer und psychotherapeutischer Richtung ausgebildet und habe auch so einiges an Ausbildung in Meditation mitgenommen. Das psychotherapeutische Wissen hilft zwar, zu verstehen, was passiert, aber es löst das Problem nicht. Die eigentliche Arbeit muss man selbst tun.
Leute wie ich (und evtl. auch du) gehören zu den so genannten Over-Achievern. D.h. man tut was man kann, ist dabei sogar recht gut, hat aber trotzdem immer das Gefühl, mehr tun zu müssen, mehr als andere, etwas Besonderes. Und selbst dann bleibt das Gefühl von Erfolg aus.
Dahinter steckt der hsch nach Anerkennung (die kann es sogar geben, aber man glaubt den Leuten nicht, dass sie das ernst meinen) und noch tiefer, der Wunsch nach Geborgenheit. Und irgendwie meint man, wenn man etwas sehr Besonderes leisten würde, dann bekäme man das und hätte endlich das Recht dazu, einfach da zu sein. Das Dumme ist nur, dass dieser Punkt nie kommt.
Diesen Knacks bekommt man irgendwann in der frühen Kindheit, meist zwischen Geburt und 5. Lebensjahr. Jeder hat irgendeinen Knacks - das bildet unsere Persönlichkeiten. Und so lange der Knacks dazu führt, dass man ganz gut in der Welt funktionieren kann, wird er auch gar nicht als Problem angesehen.
Es kann zwar hilfreich sein, zu erforschen, welche Situationen in der frühen Kindheit zu dem Knacks beigetragen haben, aber es wird das Problem nicht lösen.
Bei mir waren das verschiedene Faktoren und ich könnte nicht sagen, welcher davon am schlimmsten bzw. am prägendsten war. Nur so viel: meine Kindheit sieht nach außen eigentlich gar nicht schlecht aus. Es gab einige Erlebnisse, die schlimm waren, aber nicht mehr als bei anderen Kindern. Es muss also nicht sein, dass jemand schwer misshandelt oder vernachlässigt wurde. Es kommt ja oft genug vor, dass ein Mensch sein Leben in den Sand setzt und die Eltern können sich das gar nicht erklären, denn sie haben sich ja so viel Mühe gegeben. Die psychisch-emotionalen Verletzungen sind aber trotzdem passiert - bei jedem, auch in der Musterkindheit, versprochen.
Folgendes hilft:
Glaube deinen Gedanken nicht. Wenn Du wie ich oft unkontrolliertes Gedanken-Kino im Kopf hast (das verursacht einen großen Teil der Anspannung) dann hilft es, wenn es dir bewusst wird, durchzuatmen, aus den Gedanken auszusteigen und dem Kopf einfach mal zu sagen, dass jetzt Ruhe ist und er zu 99% ohnehin nur Blödsinn erzählt.
Dann spüre hin, welche Gefühle gerade da sind und nimm sie einfach wahr. Lass den Kopf keine Geschichte dazu erzählen (das macht er ohnehin gleich wieder, wenn die Aufmerksamkeit nachlässt). Für den Moment sei einfach mit deinen Gefühlen. Lass sie zu, ohne sie auszuagieren und ohne eine Geschichte dazu zu erzählen. Mehr braucht es nicht. Nur diese bewusst mit den Gefühlen sein. Das ständige Geplapper im Kopf ist nur eine Ablenkungsstrategie - die aber Stress macht, weil damit sehr mächtige Gefühle unterdrückt werden sollen. Also: fühlen, durchlaufen lassen, nicht festhalten.
Wenn du dich traust, geh auch tiefer. Also wenn du dich verlassen fühlst, spüre nach, was dahinter noch für ein Gefühl kommt, und wenn möglich dann noch eine Ebene tiefer usw. bis zum ursprünglichen Gefühl.
Wichtig dabei: das ist kein Leistungssport. Entspann dich soweit es geht beim Fühlen. Und wenn du nur Anspannung fühlst, dann fühl die Verzweiflung dahinter und geh da wieder tiefer bis zum Ursprungsgefühl (soweit es geht).
Sinn des ganzen: die Wahrnehmung dieser tiefen Gefühle bis zurück in die frühe Kindheit, wo sie überwältigend groß waren, führt dazu, dass die Unterdrückungsmechanismen abgebaut werden, weil die unbewusste Angst vor diesen Gefühlen nachlässt. Mit der Zeit wirst du entspannter. Und du wirst auch nicht mehr so irre unter Druck stehen, deine Aufgabe zu finden. Die Aufgabe kommt mit dem Leben auf dich zu. Sie muss auch gar nicht besonders sein. Das ist der Clou dabei. Es kann etwas ganz einfaches unscheinbares sein, das du von Natur aus gut kannst. Du fängst auch nicht von jetzt auf gleich damit an, diese Aufgabe zu erfüllen. Man wächst unmerklich hinein und bemerkt erst mit der Zeit, was die Aufgabe ist. Es ist oft eher banal, aber weil es viele Menschen gibt, die dieses eine Talent nicht haben, ist es trotzdem besonders.
Und noch mal um ganz klar zu sein: nimm dir den Druck raus. Fühle, sei bei dir, sei wach und aufmerksam für dein eigenes Leben, das sich von allein entfaltet, während du deinen Weg gehst. Es ist nicht nötig, dass du alles vorab weißt und planst und voll durchdacht hast.