"La bandiera bianca" - die weiße Flagge. Aufforderung zur Kapitulation oder Schlichtungsversuch?

Schon vor einiger Zeit fand sich der aktuelle Papst Franziskus beim Schweizer Rundfunksender "RSI" ein, um dort ein Interview zu geben. Eigentlich sollte das erst am 20.03.2024 veröffentlicht werden - doch nun gingen Teile davon vorab weltweit viral.

gutefrage-Redaktion
22.3.2024
Weiße Flagge

Der Ukraine-Konflikt und dessen Hintergründe

Russland und die Ukraine belegen Platz eins und zwei, wenn es um die flächenmäßig größten Staaten Europas geht.

In der Ukraine leben 44 Millionen Menschen. 1991 sprach das Land mittels einer Unabhängigkeitserklärung die eigene Unabhängigkeit aus.

Doch dieser Schritt beendete nicht die schwelenden Differenzen zwischen der Ukraine und Russland. Im Gegenteil: Seit einigen Jahren führte die Situation zwischen den beiden Ländern zum Tiefpunkt der russisch-westlichen Beziehung.

Die Besorgnis, dass es zu einem Angriff kommen könnte wuchs stetig. Seit 2013/2014 dauert der Konflikt um die Ukraine an. Doch im Frühjahr 2021 wurde dieser wieder brenzliger. An der Grenze zur Ukraine begann Russland mit einem extrem großen Truppenaufmarsch.

Innerhalb eines Jahres, bis Februar 2022 stellte Russland circa 150.000 Soldaten an die Grenzen rund um die Ukraine auf - die Befürchtungen der Ukraine und des Westens, die schon Ende 2021 aufflammten, bewahrheiteten sich.

Am 24. Februar 2022 startete das russische Staatsoberhaupt, Vladimir Putin, einen Angriffskrieg auf die Ukraine. Dieser hält bis heute an.

Russlands Forderungen

Doch es stellt sich die Frage, was Russland mit dem Angriffskrieg überhaupt bezwecken will - wie üblich sei auch hier vorweg genommen, dass unterschiedliche Ansichten über die wahre Intentionen existieren. Zusammengetragen werden sollen hier lediglich recherchierte Fakten.

Gegenüber dem Westen bestritt Russland bis zum Beginn des Krieges stets, eine Invasion geplant zu haben.

Schon Jahre zuvor wurden die Vorwürfe des russischen Präsidenten bezüglich der NATO immer lauter. Seine Forderungen: Sicherheitsgarantien der NATO und der USA, Verringerungen der Militärpräsenz an der NATO-Ostflanke und der Stopp der NATO-Osterweiterung. Der Vorwurf des Staatsoberhauptes ist dabei deutlich: Zu weit würde sich das westliche Bündnis in Richtung Russland ausdehnen. Deshalb forderte er von der NATO ein, ihm schriftliche Garantien zu geben, dass künftig keine weiteren osteuropäischen Länder, wie etwa die Ukraine oder Georgien, in die NATO aufgenommen würden.

Außerdem solle die geografische Reichweite der NATO verkleinert und auf den Stand von 1997 zurückgeführt werden. Dies würde bedeuten, dass Künftig keine NATO-Einheiten mehr an bestimmten Gebieten und Ländern stationiert werden dürften. Ausgeschlossen wären beispielsweise Rumänien, Bulgarien, die Visegrad-Staaten, die baltischen Staaten sowie das Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens.

Diese Forderungen wurden von den USA und der NATO als überwiegend unannehmbar zurückgewiesen.

Weiter möchte Putin Russland als neue Großmacht - etwa an der Seite Chinas - etablieren. Eine Neusortierung der Kraftverhältnisse zugunsten Russlands entspricht seiner Vorstellung. Gebildet werden solle ein Staatsgebilde, angelehnt an das ehemalige Gebiet "Kiewer Rus", geformt aus Russland, Belarus und der Ukraine. Dafür allerdings muss zuerst das russische Imperium wiederhergestellt werden.

Militär

Der Kriegsbeginn

Am 24. Februar 2022 starte Putin einen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

Diesen Krieg rechtfertigte er auch - er würde lediglich diejenigen Menschen verteidigen, die vom Kiewer Regime misshandelt, gar ermordet würden. Das Ziel sei eine "Entnazifizierung" ukrainischer Gebiete, bei dem auch gegen den Völkermord an den Russen angekämpft werden soll.

International wurde Russland aufgrund des Vorgehens scharf verurteilt und sanktioniert - jegliche Beziehungen zwischen dem Westen und Russland, die bereits zuvor angespannt waren, sind extremen Spannungen ausgesetzt worden - und teilweise zerbrochen.

Obwohl die Bemühungen für Friedensverhandlungen stets groß waren, ist nun schon seit Monaten ein reiner Abnutzungskrieg im Gange. Sofern die Parteien nicht von ihren Positionen abrücken, scheint es keinen Weg für Verhandlungen zu geben - an der Kriegsfront könnten die Kämpfe also noch lange anhalten.

Rolle der NATO

Der Krieg in der Ukraine könnte zu einer weiteren Ausweitung der NATO-Staaten führen. Eine direkte militärische Unterstützung durch die NATO ist nach wie vor allerdings ausgeschlossen - die Ukraine zählt nicht zu den Mitgliedsstaaten des Bündnisses und kann entsprechend keinen Beistand beitragen. Allerdings wird die Ukraine aus dem Westen mit Waffen beliefert.

Und hier wird die Rolle der NATO eine potentiell gefährliche: Auch ohne direktes militärisches Eingreifen könnte die NATO zu einer Kriegspartei werden. Traut man der Rede Putins, in der er davor warnte, Russlands Pläne zu verhindern oder zu bedrohen, zeigt sich, dass es sich um eine Gratwanderung handelt. Sofern Putin eine Bedrohung ausmachen könne, würde er, wie vorgewarnt, sofortige Konsequenzen folgen lassen, die ein bisher unbekanntes Ausmaß annehmen würden, so seine Formulierung.

Entsprechend werden von Seiten der NATO und USA auch nicht alle Forderungen der Ukraine erfüllt - auch bei Lieferungen wird diskutiert, inwieweit diese nötig und auch möglich seien. Dies spiegelt sich beispielsweise in den Diskussionen rund um die Kampfpanzerlieferungen wider.

Der Papst äußert sich zum Konflikt - und sorgt für internationales Entsetzen

Kuppel Vatikan

È un’interpretazione. Ma credo che è più forte chi vede la situazione, chi pensa al popolo, chi ha il coraggio della bandiera bianca, di negoziare. E oggi si può negoziare con l’aiuto delle potenze internazionali. La parola negoziare è una parola coraggiosa. Quando vedi che sei sconfitto, che le cose non vanno, occorre avere il coraggio di negoziare. Hai vergogna, ma con quante morti finirà? Negoziare in tempo, cercare qualche paese che faccia da mediatore.

Diese Äußerung des Papstes stammt aus dem Interview mit dem Schweizer Sender RSI und sorgte international für Aufsehen. Gefragt wurde er, was er darüber denke, dass einige den Mut zur weißen Fahne fordern, wohingegen andere denken, dass nur die Stärksten siegen werden. Folgend die Übersetzung ins Deutsche:

Das ist eine Interpretation. Aber ich glaube, dass derjenige stärker ist, der die Situation sieht, der an die Menschen denkt, der den Mut hat, die weiße Fahne zu hissen und zu verhandeln. Und heute ist es möglich, mit Hilfe internationaler Mächte zu verhandeln. Das Wort verhandeln ist ein mutiges Wort. Wenn man sieht, dass man besiegt ist, dass es nicht gut läuft, muss man den Mut haben, zu verhandeln. Und Sie schämen sich - aber wenn Sie so weitermachen, mit wie vielen Toten wird es enden? Verhandeln Sie rechtzeitig, suchen Sie ein Land, das als Vermittler auftritt.

Entsetzte Reaktionen - national sowie international

Erboste Reaktionen über diesen "Appell" kamen prompt von Seiten der Ukraine.

Im Nachrichtendienst X (ehemals Twitter) schrieb etwa der Außenminister Dmytro Kuleba:

Our flag is a yellow and blue one. This is the flag by which we live, die, and prevail. We shall never raise any other flags.

Damit bezieht er sich auf die ukrainische Flagge, welche gelb und blau ist. Übersetzt sagt sein Post: "Unsere Flagge ist gelb und blau. Dies ist die Flagge unter der wir leben, sterben und siegen. Wir werden niemals eine andere Flagge hissen."

Auch der frühere Abgeordnete und Vizeinnenminister Anton Heraschtschenko verurteilt die Aussage des Papstes. Statt einen Appell an die Ukraine zu richten und diese aufzufordern, sich zu ergeben, sollte viel mehr zur Verteidigung der Ukraine aufgerufen werden - und Russland als Aggressor verurteilt werden.

Auch auf Bundesebene wurde Kritik laut. Diese kam etwa von FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, welche erklärte, als Katholikin sei sie über eine derartige Aussage entsetzt.

Etwas untypisch für einen Diplomaten: Auch der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland beim Heiligen Stuhl, Bernhard Kotsch, distanzierte sich eindeutig von den Aussagen des Papstes, wie er auf X veröffentlichte.

Eine Äußerung der offiziellen Kiewer Stellen gibt es noch nicht.

Papst

Für seine Äußerungen in einem Interview mit dem Schweizer Sender RSI steht der Papst derzeit massiv in der Kritik: Forderte er die Ukraine wirklich dazu auf, sich zu ergeben, oder handelt es sich lediglich um eine unglückliche Formulierung, die die Verhandlungen wieder in Ganz bringen sollte?

Vatikan um Schadensbegrenzung bemüht

Die Aussagen des Papstes gingen viral. Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass der Vatikan darauf reagieren musste.

Matteo Bruni, der Papst-Sprecher, erklärte, die Behauptungen und Darstellungen, dass der Papst die Ukraine zur Kapitulation aufforderte, sei schlichtweg falsch. Seine Intention sei lediglich der Aufruf zu einem Waffenstillstand gewesen und ein Appell, die Verhandlungen wieder aufzunehmen.

Unsere Meinung des Tages zum Thema

International diskutierte Themen greifen wir wöchentlich in unserer Meinung des Tages auf - denn uns interessiert Eure Meinung dazu. Entsprechend haben wir auch auf dieses Thema reagiert und Euch gefragt:

Nutzer Knarff sieht es wie viele andere auch - der Ansatz des Papstes sei prinzipiell gut, ein Aufruf an beide Seiten wäre aber besser gewesen:

Der Papst ist für mich einfach ein Realist, der nach dem Motto "Jeder Tote ist ein Toter zu viel" handelt, und dessen einzige moralische Richtschnur genau das ist. Dem Papst interessiert es nicht, auf welcher Seite nun der Tote ist, er möchte, dass das Sterben ganz aufhört.

Ebenso interessiert es ihn nicht, wie die Ukraine danach aussieht. Er hält das Sterben für Landesgrenzen für eine sinnlose Sache.

So und nicht anders verstehe ich seinen Aufruf. Und da nunmal Putin im Interview mit Tucker Carlson gesagt hat, Russland sei zu Verhandlungen bereit, hat er wohl daraus geschlossen dass es jetzt an der Seite der Ukraine ist, das einzuleiten. Darüber kann man natürlich geteilter Meinung sein. Der Papst hätte auch beide Seiten dazu aufrufen können, das wäre der Sache deutlich dienlicher gewesen.

Wie auch immer: dieser Krieg wird ziemlich wahrscheinlich mit Verhandlungen enden, und für die Ukraine sieht es aktuell einfach schlecht aus. Die sollte sich schon mal langfristig vom Donbass und der Krim verabschieden.

Zur Antwort

Anders sieht es Hjalti - als "befremdlich" wird das Verhalten des Papstes in dieser Antwort bezeichnet:

Mehr als befremdlich, dass er nicht den Aggressor anspricht - sondern das Land, welches gezwungen ist, sich zu verteigen. Und was denkt er passiert mit den Menschen in diesem Land, wenn Putin hier das Sagen hat? Dann wird das Land halt nicht in den Selbstmord, sondern weiterhin in den Mord geführt. Ist dies die bessere Option in seinen Augen? Beherrscht zu werden von einem Despoten der Menschen quält, foltert, umbringt? Schon alleine dafür, dass es Ukrainer sind und alleine dafür, dass sie ihm Widerstand geleistet haben wird er wüten wie ein Berserker, wenn sich die Gelegenheit bietet.

Hat denn aus der Geschichte wirklich niemand gelernt? Verhandlungen können nur geführt werden, wenn die Verhandlungsparteien dazu bereit sind. Nicht, wenn einer das gar nicht möchte.

Scheinbar gehört der Papst auch zu denjenigen, die immer noch nicht begriffen haben, - oder es weiterhin schön reden wollen - dass Putin nicht aufhören wird! Die Ukraine ist erst der Anfang, er wird den Westen angreifen, dass ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Zumal die westlichen Staaten es nicht geschafft haben sich innerhalb ihrer Bündnisse zu einigen, die somit - wer hätte es gedacht... - das Papier nicht wert sind, auf dem sie verfasst wurden und, noch viel schlimmer, Putin Einhalt zu gebieten. Sein "Probelauf" war bisher doch ein voller Erfolg - vllt gestaltet es sich etwas zäher und länger als erwartet, aber worauf es wirklich ankam: erneut hat sich ihm genau niemand, wie schon bei der Annexion der Krim, in den Weg gestellt.

Also guter Tipp vom obersten katholischen Kirchenhaupt, dass die Opfer doch bitte endlich kapitulieren und sich ihrem Schicksal ergeben sollen - da lernen wir gleich alle, wie wir das dann in Zukunft besser machen. Ein Glück ist kiffen ja jetzt legal, dann kann man sich wenigstens offziell die Welt ein wenig rosa machen, während unsere Vollversager, entschuldigung Volksvertreter, uns auf das Ende zusteuern.

Zur Antwort

Viele Nutzer kritisieren - mal mehr oder weniger, dass nur eine Seite angesprochen wurde. H2Onrw bezieht sich in der Antwort nicht auf irgendwelche "Seiten" sondern auf den Versuch der Schlichtung:

Das ist ein sehr guter Schlichtungsversuch. Es kommt nur extrem selten vor, das ich mit Jorge Mario Bergoglio ( Papst ) einer Meinung bin, aber in diesem Fall hat Jorge Mario Bergoglio einwandfrei recht. Verhandlungen sind die einzige Option um diesen Krieg zeitnah zu beenden. Leider haben viele andere großes Interessen an einem länger anhaltenden Krieg um damit ihre eigenen Interessen einfacher durchsetzen zu können.

Zur Antwort

Die Meinung der Community geht durchaus überwiegend(er) in eine Richtung..

Prinzipiell fällt auf, dass viele zwar die Formulierung des Papstes für ungeschickt halten, jedoch am Kern der Aussage kein Problem sehen können. Für viele Nutzer ist das Gesagte eindeutig als Friedensappell aufzufassen - als eine Aufforderung, die Verhandlungen wieder aufzunehmen, nicht noch mehr Tote durch einen Abnutzungskrieg zu riskieren.

Doch es werden auch Stimmen laut, die dem Papst unterstellen, mehr Interesse an der Seite Russlands zu haben und ihn damit auch direkt in Verbindung bringen.

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