Gedicht städter?

1 Antwort

"wo die Blicke eng ausladen" kann deshalb keine nicht-bildhafte Aussage sein, da Blicke im normalen Leben nie etwas tun, das die Menschen mit "ausladen" beschreiben würden, schon gar nicht "eng".

Verwendet man dieses plumpe Ausschluss-Verfahren (wie bei Günter Jauch ;-), und kann ausschließen, dass eine normale, rein technisch beschreibende Aussage vorliegt, liegt in der Regel eine Metapher vor!

Was tun Blicke normalerweise? Gar nichts! Genau. Der Mensch tut etwas. Mit seinen Augen. Er richtet sie auf etwas, er blickt auf etwas. Dann "ist sein Blick auf etwas gerichtet".

"Er warf einen Blick in das Schaufenster" oder "Er warf mir einen Blick zu" ist schon deshalb eine Metapher, weil man einen Stein werfen kann, aber keinen Blick!

Und schon gar nicht kann ein Blick irgendetwas "ausladen" wie ein Fahrer Ware aus seinem Fahrzeug. Also müssen wir uns fragen, welches Bild der Dichter damit in unserem Kopf erwecken möchte, an welche gewohnten Verwendungsweisen der Ausdrücke er anknüpfen möchte.

Was könnten die Blicke in der Tram ausladen, also von sich geben und an andere verteilen, was könnten sie woanders, bei den anderen Passgieren einladen? Oder ist "ausladen" hier das Gegenteil von "einladen", also eine Abgrenzung von den anderen Passagieren?

Darüber hinaus ist das Adjektiv "ausladend" auch ein bildhafter Ausdruck für groß, breit und wuchtig: "Sie verfügte über ein ausladendes Hinterteil" = einen großen Arsch. Wenn es in der Tram eng ist, wird es durch ausladende Teile noch enger.

Jedenfalls ist es in der Tram, in einer Staßenbahn, "eng". Dazu schreibt Wikipedia: "Aus der Enge resultiert Indiskretion." Weiter heißt es dort (nicht gerade plausibel erläutert):

Die Menschen in der Tram sitzen zwar eng und nah, sind sich aber dennoch fremd. Ebenso die Blicke: Das Paradoxon „eng ausladen“ meint, man schaue sich an, schaue aber dennoch aneinander vorbei.

Gruß aus Berlin, Gerd

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Journalist, Buchautor, Dichter, wissenschaftlicher Lektor
username628  03.04.2022, 23:47

(Späte Antwort aber lohnt sich nicht die Frage extra zu stellen)

ist der Titel „Städter“ ein Neologismus? Weil das Wort gibt es ja nicht oder? Wenn ja welche Wirkung hat das

danke schonmal lg

0
GerdausBerlin  04.04.2022, 00:23
@username628

Es gibt eine Zeitachse, die die Häufigkeits-Veränderung der Verwendung von Wörtern in der Literatur zeigt. Aber ich finde sie gerade nicht. Sonst könnte ich nachsehen, wann das Wort "Städter" auftauchte und wann es wie verbreitet war.

Unser Gedicht ist von 1914. Städte gab es da schon lange. Und 1918 schien "Städter" ein ganz normaler Ausdruck gewesen zu sein, seihe hier bei Zille.

Gruß aus Berlin, Gerd

0