Hallo,
Ich bin 52 Jahre alt und gay. Ich kann deine Unsicherheit und Ängste verstehen. Aber wie du an den Reaktionen hier sehen kannst, sind die Leute nicht mehr so abweisend gegenüber Homosexuellen, wie sie es noch vor 20 oder 30 Jahren waren. Homosexualität wird mehr und mehr alltäglich, es ist zwar noch ein weiter Weg, aber die Gesellschaft bewegt dich in die richtige Richtung. Sei froh, dass du hier in Europa aufwächst!
Vor 80, 90 Jahren wurden Schwule noch in KZs umgebracht, 1994 wurde der Paragraph 175 (Kriminalisierung von männlicher Homosexualität) aus dem deutschen Strafgesetzbuch gestrichen, 2001 wurde Klaus Wowereit der erste bekennende schwule Bürgermeister von Berlin, 2014 gewann "Conchita" (Homosexueller Transvestitkünstler) der Eurovision Songcontest für Österreich, im Jahr darauf wurde in Wien der Songcontest aus getragen und seit dem gibt es schwule und lesbische Ampelmännchen an den Zebrastreifen und Fußgängerübergänge in regenbogenfarben, die ganze LTGB-Community ist in der Öffentlichkeit viel sichtbarer geworden, jedes Jahr bei den CSD-Paraden kommen zehn- oder hunderttausende Menschen in zig Städten zusammen und feiern die Vielfalt der Gesellschaft! Es entwickelt sich die richtige Richtung, auch wenn nicht alles nur Sonnenschein ist, du lebst in einer Gesellschaft in der man auch schwul sein darf!
Selbstverständlich gibt es auch noch Ablehnung von Homosexualität, dir mitunter auch mit körperlichen Attacken von Ewiggestrigen einher geht. Und dann gibt es auch Mobbing - leider besonders häufig genau in deiner Altersgruppe, wobei ich hier weniger glaube, dass es tatsächlich Homophobie ist (die gibt es sicher auch) sondern eher der Tatsache geschuldet ist, dass sich Teenager in einer schwierigen Phase in deren Persönlichkeitsentwicklung befinden: bis vor kurzem als Kind waren die Eltern und die Familie der zentrale Mittelpunkt in ihren Leben. Dieser Mittelpunkt verschiebt sich mit Eintreten in die Pubertät immer weiter in den Freundeskreis (was die Freunde denken wird wichtiger, als was die Eltern denken), das ist ein ganz normaler Entwicklungsprozess. Der Freundeskreis bildet sich aber erst und jeder versucht innerhalb dieser Gruppe seinen Platz zu finden und was eignet sich besser dazu, einen "Konkurrenten" in der Hackordnung zu überholen, als wenn der Konkurrent irgendwie "anders" ist, eine andere Meinung/Verhalten/sexuelle Orientierung hat. Das hat aber wenig mit Homophobie zu tun, als mehr damit seine eigene Position in der Gruppe zu stärken. Sollte einmal dein Freundeskreis auf dich los gehen (verbal), dann versuche mal mit jedem einelnen ALLEINE zu sprechen und du wirst feststellen, dass die Meinungen zu deiner Homosexualität zu 90 - 95 % zwischen "is' eh cool" und "is mir eigentlich egal" schwanken wird. Der Rest lehnt die Homosexualität tatsächlich ab, aber damit musst du zu leben lernen - man kann nicht mit jedem in jedem Punkt übereinstimmen (wir alle sind Menschen und wir sind alle Individuen mit unserer eigenen Meinung), das passiert aber Heterosexuellen genauso! Was ich sagen möchte, es liegt nicht an deiner Homosexualität, sondern, dass du dadurch angreifbar wirst und das muss dir bewusst werden.
Was jetzt deine Situation speziell betrifft, versuche dir ein Netz von Personen aufzubauen, an die du dich wenden kannst, wenn es dir mal schlecht geht, dazu zählen ein paar wirklich gute Freunde, denen du vertraust. Die sind dann an deiner Seite in der Schule/Freizeit und geben dir Selbstvertrauen. Dir muss aber auch klar sein, dass diese Freunde nicht unbedingt deine sexuelle Orientierung teilen (ich habe es bereits oben geschrieben: wir alle sind Individuen und haben unsere eigenen Meinung - und die musst du auch respektieren!) Auch wenn es dir wahrscheinlich sehr schwer fällt, eine weitere Säue in dem Netzwerk sind deine Eltern! Das ist oft ein heikles Thema, aber du kannst es selbst am besten Einschätzen, wie deine Eltern darauf reagieren werden, denn du kennst sie schon dein Leben lang. Du kannst es natürlich auch vor ihnen verschweigen, aber ich wette, deine Mutter kommt dahinter 😉 (Frag mich nicht, wie sie es machen, aber irgendwie spürt eine Mutter es! 💁♂️) Merke dir etwas Grundsätzliches: Eltern wollen, dass es ihren Kindern gut geht und dass sie sich frei entfalten können!!! Dass du es ihnen sagst, hat den Vorteil, dass deine Eltern jene Personen sind, die immer für dich da sein werden und die dich emotional auffangen werden. Ich bin jetzt wahrscheinlich etwas älter als deine Eltern, aber ich als Vater, wäre sehr, sehr froh, wenn mein Sohn zu mir kommen würde und mir so sehr vertrauen würde, dass er mit solchen Sachen zu mir kommen kann. Es wäre für mich als Vater ein großer Vertrauensbeweiß! Eine weitere Säule wäre noch, dass du dir eine Homosexuellenvereinigung in deiner Nähe suchst. Sie haben das Know-how bei allen Themen rund um die Homosexualität, von gesundheitlichen Aspekte, rechtliche Möglichkeiten oder einfach jemanden, der zuhört und dir Tipps geben kann. Ich weiß jetzt nicht wie es bei dir in der unmittelbaren Umgebung aussieht, aber zumindest in der nächsten größeren Stadt, sollte es einen solchen Verein geben. Wenn du nicht direkt dort hinkommen kannst, kannst du per Email schreiben, oder anrufen. Viele der Vereine haben auch eigene Jugendgruppen, die sich regelmäßig treffen, bei den du gleichaltrige Jungs treffen und kennenlernen und mit ihnen über die Probleme sprechen kannst. Vielleicht können sie dir auch Tipps und Erfahrungen geben, wie du am besten das Commingout bei deinen Eltern und Freunden machst und mit welchem Alter du dich bei wem und wie outest und ob überhaupt??? .
Ich hoffe, ich konnte dir ein wenig Angst nehmen, am Schwulsein ist nichts falsch! Viel Glück!
M/51, gay