Ich bin besorgt über die Vielzahl an Personen, die das Gefühl haben die Situation vollends durchschaut zu haben und das ihr Standpunkt zweifellos der richtige wäre.
Mal ganz grundsätzlich: Es ist festzuhalten, dass bei solchen Vorfällen, bei Gerichtsfällen oder auch in vielen anderen Situationen, die in die Öffentlichkeit gezogen werden, eine Informationsdissonanz besteht. Wir KÖNNEN uns gar kein vollständiges Bild machen, da wir weniger Informationen haben, als die, die im Moment am Fall arbeiten. Das führt dazu, dass Drittpersonen sich aus den gegebenen Informationen ein Bild machen und zum falschen Schluss kommen.
Oftmals bei Strafprozessen der Fall. Ich stelle leider fest, dass viele ihre Meinung zu Fällen äussern, ohne jemals das Gerichtsurteil gelesen zu haben. (Fun fact: Selbst aus dem Urteil würden sich oftmals nicht alle Aspekte eines Falls herauslesen lassen)
Einige Gedanken:
Zum Fall Lorenz. Es gibt präventive und repressive Schusswaffeneinsätze. Eine Tötung ist gemeinhin nur in Ausnahmefällen und nur bei präventiven Einsätzen zulässig. Im vorliegenden Fall wurde 4 Mal in den Rücken geschossen. Dies KANN sowohl präventiv in Notwehrhilfe geschehen (Bsp. Polizisten sind verteilt, der Angreifer bewegt sich trotz Befehlen des Polizisten auf ihn zu, ist bewaffnet, dann schiesst der andere Polizist allenfalls aus einem Winkel, bei dem die Schusseintritte im Rücken sind), als auch repressiv (bsp. er hat zuvor Leute mit Reizgas/Reizsprühgerät andgegriffen und rennt jetzt weg, hier wäre eine Tötung nicht mit geltenden Grundrechten und Völkerrecht vereinbar). Als Präventiv würde auch gelten, wenn eine Waffe beim Täter festgestellt wird, er zuvor Leute damit bedroht oder angregriffen hat, und er danach von der Polizei wegrennt (und die Polizei damit rechnen muss, dass nach gelungener Flucht eine Gefahr vom Täter ausgeht - auch hier würden die Eintrittswunden des Schusswaffeneinsatzes im Rückenbereich liegen).
Ausserdem würde ich an dieser Stelle gerne die Aufmeksamkeit auf den Streifschuss am Oberschenkel richten. Niemand mit Tötungsabsicht schiesst auf den Oberschenkel, dafür ist das Ziel zu klein und zu leicht zu verfehlen. Ausserdem variiert die Todeschance je nach Eintrittsort im Oberschenkel. Einsatzkräfte lernen, nur um jemanden zu stoppen auf die Y-Zone (Oberschenkel) zu schiessen. Nach der Ausbildung sollten sie in der Lage sein, instinktiv nach der jeweiligen Situation das Ziel zu wählen. Dass ein Schuss auf den Oberschenkel gefallen ist (und fast verfehlt wurde) weisst auf eine versuchte Stoppung des Angreifers (wenn er denn einer war) hin.
Der Kopfschuss auf der anderen Seite spricht fürs Gegenteil, also für eine Tötungsabsicht.
Falls ich aber wetten müsste, würde ich darauf setzen, dass zumindest zuerst eine Stoppungsabsicht gegeben war, da ein Schuss auf die Y-Zone ansonsten schlicht zu unwahrscheinlich ist. Um den Gedanken weiterzuspinnen: Wenn man Stoppen will und die Y-Zone verfehlt, wechselt man zur X-Zone (Oberkörper). Reicht das auch nicht, um das Ziel zu stoppen, ist ein Schuss auf den Kopf denkbar, wenn auch sehr problematisch. Völkerrechtlich sind Kopfschüsse kritisch.
Es wäre allerdings naiv darüber hinwegzusehen, dass in Einsatzkräften, sowohl bei der Polizei wie auch in Spezialeinheiten und beim Militär, grösstenteils rechtes Gedankengut vertreten ist. Rassismus wird es geben, die Frage ist in welchen Ausmass und ob Rassismus im vorliegenden Fall eine Rolle gespielt haben könnte. Aus den gegebenen Informationen aber darauf zu schliessen und es als alleinige Ursache abzustempeln halte ich aber für naiv und dumm.
Wichtig ist es auch miteinzubeziehen, dass in solch einer Situation viel Druck auf den Betroffenen lastet und z.T instinktiv entschieden wird.
Zu mir, damit ihr meinen Beitrag einordnen könnt. Ich würde mich selbst als politisch mittig/eher links einordnen. Ich sehe die gesellschaftlichen Herausforderungen in sozialen Fragen, Rassismus und Gewalt und setze mich u.A gegen sexuelle Gewalt an Frauen ein. Ausserdem bin ich selbst ausgebildet als Einsatzkraft und auch Ausbildner und Schiessleiter. Ich erkannte während dieser Tätigkeit rechtes Gedankengut in meinem Umkreis und bei meinen Schützlingen, aber ich sah auch wie schnell die Öffentlichkeit Situationen als Rassistisch ausschlachtet und wie die Öffentlichkeit Schwierigkeiten hat, das Handeln in Einsätzen nachzuvollziehen.
Ausserdem habe ich mich intensiv mit Schusswaffeneinsätzen in Verbindung mit Grundrechten auseinandergesetzt.
Tut mir leid, dass ich deine Frage so vage beantwortet habe, aber ich hoffe meine Gedanken haben dem Einen oder Anderen weitergeholfen und neue Anstösse geliefert.