Ja, zwei Mal.
Das erste Mal war mit 20. Ich war gerade auf dem Weg in meinen Schwedischkurs, als ich eine Frau im Gleisbett liegen sah. Ich sprang vom Perron runter ins Gleisbett. Die Frau wehrte sich ziemlich, schlug um sich, kreischte etc.. Ich glaube, sie war psychisch krank. Ich schaffte es dann zusammen mit einem anderen Mann, die Frau zurück auf den Perron zu hieven. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Zug einfuhr.
Das zweite Erlebnis ging mir jedoch deutlich näher. Denn hier handelte es sich nicht um eine fremde Person, sondern um meine grosse Liebe und die Frau, die ich später heiratete. Das Erlebnis geschah, als ich 22 war. Meine (jetzt) ex-Frau und ich lernten uns kennen, weil sie ein Austauschjahr an meiner Uni in der Schweiz machte. Sie kommt aus Südkorea. Wir verliebten uns schnell, wurden ein paar und verbrachten ein wunderschönes Jahr zusammen (bis heute das schönste Jahr meines Lebens). Im Sommer musste sie dann wieder zurück nach Hause reisen. Aber bevor es so weit war, wollten wir noch möglichst viele schöne Dinge miteinander unternehmen. Weil das Wetter sehr heiss war, schlug ich meiner Freundin vor, dass ich ihr meinen Lieblingsbadesee zeige. Es handelt sich dabei um einen Weiher, der super idyllisch gelegen ist inmitten eines Naturschutzgebietes. Auf der einen Seite hat es eine Wiese, wo man sich hinlegen kann, aber sonst ist der See komplett von Wald umschlossen. Vom Bahnhof aus mussten wir ca. 1h bis zum See spazieren, weil es dort keine befestigten Strassen gibt. Beim See angekommen breiteten wir unsere Sachen aus und quatschten eine Weile. Meine Freundin hatte noch drei Türkinnen mitgenommen, die auch ein Studienjahr in der Schweiz machten und im gleichen Wohnheim wie meine Freundin lebten. Irgendwann sagte ich dann: "Na los, lasst uns ins Wasser gehen!" Die Türkinnen hatten aber keine Lust und wollten lieber nur quatschen, deshalb gingen meine Freundin und ich alleine. Beim See angekommen sah ich, dass wir die Einzigen waren. Wir hatten den ganzen See für uns alleine. Diese Information ist wichtig, weil es auch bedeutete, dass uns niemand sah. Die Türkinnen konnten uns von ihrem Standort aus auch nicht sehen, da sie zu weit weg waren und es noch Bäume und Gebüsch im Weg hatte.
Bei diesem Badeweiher ist es so, dass man nicht langsam reinwaten kann. Das Ufer ist voller Schilf. Deshalb gibt es einen Holzsteg, der etwa 20m weit ins Wasser rausgeht. Am Ende des Stegs hats dann eine steile Leiter oder man kann auch einfach ins Wasser springen.
Meine Freundin verhielt sich etwas seltsam, aber weil sie sowieso ziemlich schüchtern war und ich sie noch nicht so gut kannte, fiel mir das leider nicht auf. Erst im Nachhinein wurde mir klar warum.
Am Ende des Stegs angekommen sprang ich enthusiastisch ins Wasser, tauchte unter und schwamm gleich mal etwas in den See raus. Meine Freundin stand am Ende des Stegs und schaute mir sehr unsicher zu. Ich feuerte sie an und rief ihr zu, ebenfalls ins Wasser zu kommen.
Die nächsten paar Momente werde ich niemals vergessen.
Meine Freundin sprang, verschwand unter Wasser und tauchte wieder auf. Soweit alles normal. Doch als sie auftauchte, schnappte sie panisch nach Luft. Sie schwamm nicht, sondern schlug völlig unkoordiniert mit den Armen um sich. Als ich das sah, wusste ich sofort, dass es ein absoluter Notfall war. Denn in solchen Weihern ertrinkt man extrem leicht. Das Wasser ist total schlammig und trüb. Auch wenn es nur 4-5 Meter tief ist, hat man KEINE Chance, eine Person jemals rechtzeitig zu finden. Ich wusste also, dass ich meine Freundin erreichen musste, bevor sie zum letzten Mal unter die Wasseroberfläche verschwand.
Zum Glück bin ich ein schneller Schwimmer. Aber es lagen doch etwa 30 Meter zwischen uns und in diesem Moment fühlte es sich wie 30 Kilometer an.
Ich schwamm, so schnell ich nur konnte. Gleichzeitig sah ich, wie meine Freundin unter Wasser verschwand. Einen Moment später kam sie panisch hustend und weinend nochmals hoch. Und dann schaute sie mich an. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde, aber dieser Blick ging mir durch Mark und Bein. Unsere Blicke trafen sich und in ihren Augen stand: "ich schaff es nicht mehr, ich geh unter." Sie schlug noch kurz um sich, dann verschwand ihr Kopf unter Wasser. Es wäre das letzte Mal gewesen, da bin ich mir ziemlich sicher.
Genau in diesem Moment erreichte ich die Stelle, wo sie untergegangen war. Ich konnte sie schon nicht mehr sehen. Ich griff panisch unter Wasser und wedelte meinen Arm hin und her. Da kriegte ich gerade noch das Genick meiner Freundin zu fassen. Ich konnte spüren, wie ihr Körper nach unten sank. Ich tauchte und holte sie an den Schultern rauf. Dann legte ich mich auf den Rücken und meine Freundin auf mich drauf, so wie ich es im Rettungsschwimmen als Kind gelernt hatte. Am Ufer angekommen waren wir beide total fertig, sowohl körperlich, als auch mit den Nerven.
Meine Freundin gestand mir dann, dass sie überhaupt nicht schwimmen konnte. Sie erzählte mir, dass man als Kind/Teenager in Südkorea nicht schwimmen lernt, weil Koreaner nicht gern schwimmen gehen. Bei uns in der Schweiz kann absolut jeder schwimmen und deshalb hatte ich einfach angenommen, dass das in anderen Ländern/Kulturen auch so sei. Aus einem kulturellen Missverständnis wäre um ein Haar ein extrem tragischer Unfall geschehen.
Als Konsequenz dieses gemeinsamen Erlebnisses lehrte ich meiner Freundin und späteren Frau dann das Schwimmen. Jedes Mal, wenn wir z.B. Urlaub am Meer machten, machten wir pro Tag eine Stunde Schwimmunterricht. Am Ende unserer Beziehung konnte meine Frau selbständig bis zur dritten Boje (ca. 150m) rausschwimmen und wieder zurück. Ich war mächtig stolz auf sie. Sie wird zwar nie ein Michael Phelps, aber immerhin muss ich mir jetzt keine Sorgen mehr um sich machen. Wenn sie mal irgendwo aus Versehen ins Meer oder in einen See reinplumpst, wird sie es alleine wieder rausschaffen.
Das Erlebnis beschäftigt mich aber trotzdem heute noch. Ich gehe heute noch an dem See schwimmen (jetzt leider wieder alleine) und ich muss jedes Mal an sie denken.