Er starrt sie an, seine Augen weit aufgerissen, als würde er gleich explodieren. „Was ist los? Du springst von einem Dach, und fragst mich, was los ist?“ Seine Stimme zittert, aber nicht aus Sorge – es ist Wut, die sich anbahnt.
Kiras Halsmuskulatur spannt sich an und verursacht dabei einen stechenden Schmerz. „Ich … ich wollte nur …“
„Du wolltest nur was? Sterben?“, unterbricht er sie scharf. Er beugt sich über sie, sein Atem ist heiß und schwer. „Hast du eine Ahnung, was ich durchmache, seit deine Mutter …“ Er bricht ab, ballt die Faust, schlägt sie dann gegen die Wand. Der Aufprall lässt Kiras Gesicht zusammenzucken.
„Papa, bitte …“, flüstert sie, Tränen kullern ihr über die Wangen.
Er atmet tief durch, als würde er sich mühsam beherrschen. „Ich werde dafür sorgen, dass du wieder laufen kannst. Ich bin kein schlechter Arzt, egal, was die sagen. Ich werde dich heilen.“
Kira schüttelt den Kopf, während ihr Nacken einmal knackst, ihre Stimme ist kaum hörbar. „Die Ärzte hier … sie helfen mir schon. Bitte, lass sie …“
„Helfen?“, faucht er. „Die können dir nicht helfen. Für die bist du nur ein Fall, eine Nummer. Aber ich … ich werde dich heilen. Ganz allein.“
„Nein!“, ruft sie, ihre Stimme bricht. „Der Arzt sagte, ich brauche Zeit. Ich muss hier bleiben …“
Er zieht ihr mit Schwung die Decke vom Körper und ihr Teddy schleudert durch den Raum. „Du bleibst nirgendwo. Ich lasse nicht zu, dass die dich hier verrotten. Du kommst mit mir! Jetzt!“
Kira erstarrt, ihr Herz rast. „Papa, bitte … ich kann nicht …“
„Du kannst!“, brüllt er, und seine Stimme hallt durch den Raum. „Du wirst wieder laufen, verstehst du? Ich werde dich heilen, egal, was es kostet.“
In seinen Augen blitzt etwas, das Kira erschaudern lässt. Es ist nicht Liebe, nicht Sorge – es ist Besitz.
Kiras Gliedmaßen sind mit Gips bedeckt, durch ihren Rumpf zieht sich ein Verband, eine Halsschiene richtet ihren Kopf und Kissen stützen die Beine. Ohne zu zögern greift der Vater unter ihren Körper und hebt sie hoch. Ihre gebrochenen Rippen drücken quer durch ihr Fleisch. Der Vater nimmt eine selbstbewusste Körperhaltung ein und ist gewiss, dass er sie mit nach Hause nehmen kann.
„Halt! Was machen Sie da, Andy?“, ruft der Arzt mit schockierter Stimme von der Tür aus.
Der Arzt tritt näher, sein Gesicht ist blass, ein Kloß scheint ihm im Hals zu stecken. „Sie könnten Ihrer Tochter das Genick brechen! Hören Sie auf!“
Andy dreht sich abrupt um, Kiras zerbrechlicher Körper fest in seinen Armen. „Verschwinden Sie!“, brüllt er, seine Stimme nimmt den Raum bis in die Flure ein. Dann rennt er los, die Tür knallt gegen die Wand, als der Arzt zur Seite springt, um nicht gegen Kira zu stoßen – ein Zusammenprall könnte sie töten. „Andy! Sie bringen Ihre Tochter um!“, schreit er ihm hinterher, aber Andy hört nicht mehr.
Geradewegs rast Andy durch die Flure, während Kiras Kopf durch die Schienen stabil gehalten wird. Jeder, der ihm begegnet, weicht erschrocken zur Seite. Blicke voller Entsetzen treffen ihn, einige rufen: „Holt die Polizei!“, andere erstarren einfach, zu geschockt, um zu reagieren. Andy stampft weiter, sein Atem geht schwer, seine Schritte hallen durch den Korridor.
Kira ist währenddessen kaum bei Bewusstsein. Sie kann ihren Körper weder fühlen, noch bewegen, esr fühlt sich an, als wäre er nicht mehr ihr eigener. Sie versucht, etwas zu sagen, aber die Worte bleiben in ihrer Kehle stecken. Nur ein leises, unverständliches Nuscheln entweicht ihren Lippen.
Die letzte Tür – der Haupteingang des Krankenhauses – fliegt unter Andys Schulterstoß auf und das Hereinbrechen der Dunkelheit lässt alles noch angsteinflößender erscheinen. Mit Kiras gebrochenem Körper im Arm stürmt er über den Parkplatz. Für Kira dehnt sich die Zeit wie Sirup. Jeder Schritt ihres Vaters lässt ihre Rippen in den Verband krallen, als würden Messer durch ihr Fleisch gleiten. Durch den Schleier der Angst fixiert sie sein Gesicht: kalt, maskenhaft, als wäre er aus Stein gemeißelt. Seine Pupillen sind zu schmalen Schlitzen verengt, die Mundwinkel nach unten gezogen, als kämpfe er gegen ein Grinsen. Seine weißen, strähnigen Haare kleben an der schweißnassen Stirn, während er den Kopf ruckartig hin und her wirft, um die Sicht freizuhalten. Im Mondlicht wirkt sein glattrasierter Kiefer wie ein Eisenblock – kantig, spitz.