Es ist vermutlich so, daß das sogenannte klassische Latein nur kurze Zeit vom Volk gesprochen worden ist. Und das wahrscheinlich nur innerhalb von Italien, dem Herkunftsland der Römer, früher Latiner genannt. Es gab wohl die meiste Zeit im Römischen Reich den Unterschied zwischen klassischem Latein und Umgangssprache. Während sich die Umgangssprache stetig verändert hat, ist das klassische Latein die in Grammatiken und Wörterbüchern festgehaltene Sprachform eines kurzen Zeitabschnittes. Das klassische Latein war im Römischen Reich die Sprachform, an der sich Gebildete und die Verwaltung weitgehend ausgerichtet hatten.
In den vom Römischen Reich eroberten Gebieten war Lateinisch anfangs eine vom Volk dort gelernte Sprache, weshalb es dort immer unter Einfluß der ursprünglichen Sprachen stand. Ein Gallier hat im Lateinischen einen gallischen Tonfall behalten oder zu weniger förmlichen Anlässen auch gallische Wörter einfließen lassen. Weil Lateinisch die reichsweite Verwaltungssprache war, ist sie in den eroberten Gebieten mehr und mehr gelernt worden und hat schließlich die einheimischen Sprachen verdrängt.
Die Veränderung der Umgangssprache hat sich noch verstärkt, als das Weströmische Reich 476 zerfiel und auch Rom als Zentrum der lateinischen Sprache wegfiel. Statt auf Rom war man nun eher auf Städte im näheren Umfeld ausgerichtet. Die sprachliche Ausstrahlungskraft von Rom hat aber schon vor dem endgültigen Zerfall immer weiter nachgelassen. So kommt es, daß ab einem gewissen Zeitpunkt das einfache Volk das klassische Latein kaum noch verstanden hat. Die Völkerwanderung hat ihr Übriges getan, um die Verbindung der ehemals römischen Gebiete untereinander abreißen zu lassen.
In der gehobenen Schicht hat man am klassischen Latein mehr oder weniger festgehalten. Aber auch die Kirche pflegt das Lateinische bis heute. Ab dem Zerfall des Weströmsichen Reiches und der Völkerwanderung waren vor allem die Klöster Orte der Gelehrsamkeit, wo man sich um das Bewahren von Wissen bemüht hat und auch das Lateinische weiter gepflegt hat. Aber auch das Lateinische hat sich dort, wo es weitergepflegt worden ist, im Laufe der Zeit verändert, und zwar meist durch Einfluß der Landessprachen. Das im Mitttelalter geschriebene und gesprochene Latein unterscheidet sich vom klassischen Latein antiker Schriftsteller, auch wenn man beides als Lateinkundiger verstehen kann.
Ab dem frühen Mittelalter war dann ein Zeitpunkt erreicht, wo es eindeutig war, daß die gesprochene Sprache etwas anderes als Latein ist. Durch das Eigenbewußtsein vor Ort hat man begonnen, auch die Volkssprachen neben dem Lateinischen schriftlich zu benutzen. Die gehobene Schicht konnte sich der Volkssprache schließlich auch nicht mehr entziehen, weil sie im Umgang mit dem einfachen Volk diese verwenden mußte. Wahrscheinlich sind auch Leute der gehobenen Schicht nach und nach im täglichen Umgang (teilweise) zur Volkssprache übergegangen, nachdem Rom als Zentrum weggefallen war.
Man kann sagen, daß die Entwicklung vom Nebeneinander von gesprochenem und klassischen Latein zum Nebeneinander von Landessprache und Latein etwa um das Jahr 800 abgeschlossen war. Weil gehobene Schichten und die Kirche am Lateinischen festgehalten haben, nicht zuletzt zum Lesen von für sie wichtigen Schriften, ist es bis heute nicht in Vergessenheit geraten.
Als Bildungssprache hat sich Lateinisch sogar über das einstige römische Reich hinaus verbreitet, nämlich dorthin, wo sich auch die römisch-katholische Kirche durch Mission verbreitet hat. Das Fränkische Reich hat das Lateinische als Bildungssprache frühzeitig in Teile Deutschlands, die nie zum Römischen Reich gehört haben, getragen.
Was das oströmische/byzantinische Reich angeht, so muß man bedenken, daß neben dem Lateinischen dort das Griechische immer als Bildungssprache erhalten geblieben ist. Außerdem sind in späterer Zeit in die meisten Gebiete von römischer Kultur unbeeinflußte Völker eingewandert und haben romanische Sprachen dort verdrängt. Eine wichtige Ausnahme ist das heutige Rumänien und die Aromunen, die verstreut über den Balkan und Griechenland leben.