#gutesBuch: Eine Rezension zu “Air” von Christian Kracht

gutefrage-Redaktion
11.4.2025
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Christian Kracht hat in der modernen deutschsprachigen Literatur einen Status inne, den neben ihm unter deutschsprachigen Autoren nur wenige andere besitzen. Seine Romane wurden in über 30 Sprachen übersetzt und viele halten ihn für den wichtigsten deutschsprachigen Autor seiner Generation. Sein Debütroman Faserland, der nach seinem Erscheinen in den 90er Jahren vom Feuilleton seinerzeit noch zerrissen wurde, ist inzwischen Abiturstoff und so wundert es kaum, dass sich regelmäßig auch in unserer Community Fragen mit der Interpretation seiner Werke beschäftigen. Denn auch wenn diese häufig nicht allzu lang sind, liegt zumeist sehr viel in ihnen, das darauf wartet, entschlüsselt und entdeckt zu werden. So auch bei seinem neuen Werk Air.

“Das Leben war voller Sorgen, aber auch nicht wirklich”

Mit diesem Satz beginnt Krachts neuer Roman Air. Ein Buch, bei dem man sich nach dem Lesen mit Faszination fragen kann, was man da eigentlich gerade genau gelesen hat, um dann nochmal von vorne zu beginnen. Diese Vielschichtigkeit liegt bereits im einleitenden Satz: “Das Leben war voller Sorgen, aber auch nicht wirklich.” Diese ersten Worte lassen mindestens zwei in ihrer Konsequenz stark voneinander abweichende Lesarten zu, je nachdem, worauf das auf den ersten Blick so lapidare “aber auch nicht wirklich” bezogen wird. Und wie in diesem Satz bleibt auf den folgenden gut 200 Seiten viel Interpretation und Deutung dem Leser überlassen. Scheinbar unwichtige Details und Feinheiten können beim wiederholten Lesen in völlig neuem Licht erscheinen. Zum Teil vermittelt der Roman dem Leser auf diese Weise das ungewöhnliche Gefühl, an der erzählten Geschichte selbst mitzuschreiben. Die Spoiler, die in den nächsten Absätzen enthalten sind, sollten die Lesefreude daher nicht mindern. Dennoch sei an dieser Stelle auf sie hingewiesen.

Die Geschichte von Paul und Cohen

In der Hauptrolle des Buches steht Paul, ein Innenarchitekt und Dekorateur, der in Stromness auf den kargen schottischen Orkney-Inseln lebt. Diesen Ort hat er sich ganz bewusst ausgesucht, denn bei der Ausübung seines Berufs liebt er den reduktionistischen nordisch-japanischen Stil, der das einfache Leben zum Luxusgut erhebt. Vom Architektur und Lifestyle-Magazin Kuki, welches Paul verehrt und über dessen Inhalte er einen Großteil seiner konsumistischen Identität herum aufgebaut hat, erhält er schließlich den Auftrag, das norwegische Green Mountain Data Center - eine (real existierende) riesige norwegische Serverhalle, in der die Clouds der Welt durch die großen IT-Unternehmen wie Google & Microsoft gespeichert werden - ins perfekte Weiß zu streichen. Der Herausgeber und Chef des Kuki-Magazins erweist sich beim ersten Aufeinandertreffen der beiden dann nicht nur als lebensmüde, sondern auch all dessen überdrüssig, was sein Magazin symbolisiert. Er ist keineswegs begeistert von Reduktionismus und Manufaktur, sondern viel eher frustriert angesichts der Tatsache, dass der späte Kapitalismus selbst Einfachheit und Leere noch zu kommodifizieren und Trotteln wie Paul teuer verkaufen zu vermag.

Als Paul dann gerade dabei ist, die besagte Serverhalle zu inspizieren, geschieht unvermittelt eine große Sonneneruption und der davon ausgehende Magnetsturm sorgt für einen großen irdischen Stromausfall - auch in der Serverhalle. Paul verschwindet dabei und taucht in einer am europäischen Mittelalter orientierten Fantasywelt wieder auf, in der er und ein junges Mädchen von einem bösen Herzog gejagt werden. Später wird Paul auch Cohen dort treffen. In dieser Welt begegnen sie unter anderem einem Volk, das in einer Steinwüste scheinbar glücklich und archaisch lebt und sich bei Architektur und Ernährung aufs Notwendigste beschränkt - nicht einmal Ackerbau wird dort betrieben. Beide - Paul und Cohen - werden diese Welt nicht mehr verlassen.

Kracht transzendiert in Air die Genrefrage

Air funktioniert als Buch auf verschiedenen Ebenen und es funktioniert auf jeder davon gut. Vordergründig ist es eine Abenteuergeschichte, die für sich schon sehr unterhaltsam und spaßig geschrieben und aufgrund der relativ simplen, wenig verschachtelten Sprache angenehm und schnell lesbar ist. Es ist außerdem zumindest auf den ersten Blick auch ein fantastischer Roman, obwohl bei genauerem Hinsehen nicht ganz klar wird, ob man es jetzt mit Fantasy oder Science-Fiction zu tun hat. Viel wichtiger aber ist es ein mit zahlreichen, nie aufdringlich wirkenden Anspielungen an andere Werke und Ideen gespicktes Buch über die (post)moderne Welt und über die Frage, wo diese falsch abgebogen ist und ob es einen Ausweg aus der Sackgasse, in der sie sich befindet, geben kann. Ein Motiv, welches aus früheren Werken Krachts wie 1979 und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten bekannt ist. Und gewiss ist es darüber hinaus auch eine Geschichte über Hoffnung und Liebe mit autobiographischen Zügen, die sich in diversen Charakteren widerspiegeln. Deshalb uneingeschränkte Leseempfehlung.

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