Was ist die Wirkung und Bedeutung von dem Briefroman "Die Leiden des jungen Werther" im Vergleich damals zu heute?

2 Antworten

Die Wirkung der „Leiden des jungen Werthers“ auf die Literaturbegeisterten der Jahre ab 1775 war ungeheuer. Man spürte, in dem Roman werden mit genialer Darstellungs- und Formulierungskunst Grundfragen der menschlichen Existenz angesprochen und veranschaulicht. Um 1775 erregte außerdem noch Aufsehen, dass Goethe gewisse unmenschliche Erscheinungsformen des Feudalismus und des Hochbürgertums aufs Korn nahm. Eine derartige Gesellschaftskritik ist heute allerdings obsolet.

Für Goethe war die Wahrhaftigkeit der literarischen Darstellung unabdingbar. Man lese in den „Gesprächen mit Eckermann“ nach, wie sich dieses Credo der Wahrheitsfindung durch alle Diskussionen über die Poesie wie ein roter Faden zieht. Das „Ins-Werk-setzen der Wahrheit“ ist das Wesen aller Kunst – so hat es ein Philosoph des 20. Jahrhunderts formuliert. Goethe war offensichtlich auch dieser Auffassung. Jedes Abgleiten der Wahrheitsfindung in die ideologische Einseitigkeit oder – noch schlimmer – in den (süßen oder sauren) Kitsch war ihm ein Gräuel.

Noch etwas ist bei den „Leiden des Jungen W’s“ zu erkennen: Die „Anlage zum Höheren“ – wie es bei Eckermann heißt. Wie der empfindsame, großherzige Mensch Werther die Welt und die Menschen wahrnimmt, zeugt von einem „höheren Menschentum“. „Die Anlage, das Höhere aufzunehmen, ist sehr selten, und man tut daher im gewöhnlichen Leben immer wohl, solche Dinge für sich zu behalten“ (Goethe). Zumal zu erkennen ist, „dass viele Menschen, besonders Kritiker und Poeten, das eigentlich Große ganz ignorieren, und dagegen auf das Mittlere einen außerordentlichen Wert legen“ (Eckermann, mit Zustimmung Goethes, 18. März 1831).

Damals, in der Zeit des grandiosen Aufschwungs der deutschen Literatur hatte man ein Gefühl für Größe in der Literatur, sodass der Goethe-Roman, da er von der Größe einer menschlichen Seele Zeugnis gab, begeistert aufgenommen wurde (nicht von der Kirche - wegen des Selbstmordes Werthers). Heute dagegen, wo so viele Repräsentanten der deutschen Literatur, auch viele Leser mehr „auf das Mittlere einen außerordentlichen Wert legen“, haben Werthers Leiden kaum noch eine Chance, richtig ästimiert zu werden (Ausnahme: in den Schulen, aber auch hier haben die Schüler den Goethe-Roman kaum je mit Begeisterung aufgenommen).

Von einer Wirkung der „Leiden des jungen Werthers“ auf die heutige Generation junger oder älterer Leser kann deshalb meiner Ansicht nach überhaupt nicht gesprochen werden.

Damals waren die Leser hingerissen von dem ganzen Herz-Schmerz-Drama. Viele Leute kamen auf den Geschmack, jetzt selbst Selbstmord zu ...

Heute spricht man auch vom Werther-Syndrom, wenn durch Vorbilder in den Medien dieser Geschmack wieder ...

Und dann kam diese blau-gelbe Mode auf. Goethe selbst hat diese Werther-Tracht getragen.