Was meinte Nietzsche mit man sollte die Moral vernichten und sich außerhalb der Moral stellen?


19.10.2022, 01:12

Was ist außerhalb, von sittlicher und unsittlicher/individualistischer Moral?

4 Antworten

Man darf nicht die allgemeine institutionalisierte (zum Beipiel in Strafgesetze verfasste) Moral mit der christlichen Moral verwechseln. Letztere wurde von Nietzsche verflucht (im „Antichrist“, letztes Kapitel), nicht aber die Moral, welche die Grundlage der Strafgesetze und auch der bürgerlichen Gesetze - BGB - bildet. Die hat Nietzsche natürlich anerkannt, musste sie anerkennen aufgrund vernünftiger Einsicht, andernfalls würde das allgemeine Chaos ausbrechen. Die christliche Moral dagegen geht weiter als die Moral der Strafgesetze (z.B. Du sollst nicht töten, nicht stehlen usw.) oder die Moral der bürgerlichen Gesetze (z.B. sei ein fairer Kaufmann, lüge nicht, hau andere nicht übers Ohr usw.). Die christliche Moral ist von Jesus in der Bergpredigt verkündet worden. Dazu gehört die Nächstenliebe, die Rücksicht auf die Interessen anderer, das Mitgefühl, das tätige Mitleid, Hilfsbereitschaft, das heißt Bereitschaft, einem Unglücklichen irgendwie echt zu helfen und anderes mehr. Oder auch der allgemeinste Satz aller Moral, den einmal Schopenhauer formuliert hat: ‘Laede neminem! Verletze niemanden; vielmehr hilf allen, soweit du kannst!‘

Nietzsche hat die christliche Moral deshalb verflucht, weil er der Meinung war, sie hemme den Willen zur Macht im Menschen ("Macht" als Metapher verstanden). Dieser Wille zur Macht sei der zentrale, eigentliche Antrieb aller Lebewesen, auch des Menschen. Der Mensch müsse seinen Willen zur Macht frei und ungehindert zur Entfaltung bringen, allein das garantiere ihm, dass er ein großartiges, erfolgreiches Leben führen und damit glücklich werden könne (Glück nicht als "Weideglück der Lämmer" verstanden, sondern als heroisches Leben voll Genugtuung und Größe). Deshalb auch seine Formulierung: "Der Mensch ist Wille zur Macht und nichts außerdem" (s. "Jenseits von Gut und Böse"), d.h. also außer dem Willen zur Macht bestehe er nicht auch noch aus einem moralischen Empfinden, nein!! Er ist nichts als Wille zur Macht! - Die christliche Moral hielt er auch deshalb für überflüsstig, weil sie letztlich Gottes Existenz voraussetzt, die aber hat er negiert.

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Von Experte Udavu bestätigt

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Ich habe eine gespaltene Meinung von Nietzsche. Manche verehren ihn, manche kennen ihn nicht, manche nehmen ihn nicht ernst, ich finde Nietzsche tickte nicht immer ganz sauber.

Damit meint Nietzsche, dass die "geltende" Moral der Gesellschaft außen vor bleiben, und nur durch eine primordiale, persönliche, "übermenschliche" Moral ersetzt werden sollte, wenn überhaupt.

Nietzsche kritisierte die Gesellschaft, die Kirche, die Politik, das Bürgertum, sehr stark für die von ihm an diesen festgestellten Moralvorstellungen. Damit wird er sehr oft sogar prinzipiell recht gehabt haben, denn gesellschaftliche Moral ist durchaus kritikwürdig, nur das, womit er sie ersetzen wollte, ist für mich nicht nachvollziehbar.

In "Also sprach Zarathustra" elaboriert Nietzsche sehr ausdrucksstark, wie diese ursprüngliche, urgewaltige Moral beschaffen sein sollte, und für mein Empfinden hat er hierdurch einen Grundstein gelegt für die bedingungslose Opferbereitschaft der Deutschen, die 50 Jahre nach ihm im Zweiten Weltkrieg Hitler und seinen Zwecken zuliebe an jeder x-beliebigen Front Eurasiens ihr Leben wegwarfen.

Nietzsches Denken gelangte nicht zu einem wirklich vernünftigen Gottesbegriff, weil er die Historie des Gottesmythos nicht wirklich erforscht hatte, und nicht begriff, warum Menschen überhaupt durch Mythen zu Gottesbegriffen gelangen.

Kurz und knapp: Weil Nietzsche die Bewandtnis des Gottesbegriffes nicht begriff, lehnte er Gott ab, ließ ihn "sterben", und beschwor konsequenterweise hernach das herauf, für das Gott auch steht : Hemmungslose Selbstaufopferung.

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 - (Menschen, Leben, Philosophie und Gesellschaft)
Marco79100 
Fragesteller
 19.10.2022, 16:29

vielen Dank für deine hilfreiche Antwort!

Was denkst du hat Nietzsche explizit nicht an dem Gottesbegriff nicht verstanden?

Lg

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Haldor  19.10.2022, 16:51

"Damit meint Nietzsche, dass die "geltende" Moral der Gesellschaft außen vor bleiben soll..." - Das stimmt nicht. Nietzsche meinte mit Moral die christliche Moral.

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Haldor  24.10.2022, 18:22

Dieser Blick Nietzsches lässt mich erschauern. Es ist der Blick desjenigen Philosophen, der am tiefsten in die Welt geblickt hat (vielleicht zu tief); was er dort alles wahrgenommen hat, hat ihn schließlich wahnsinnig werden lassen (an die Mär, er hätte Syphilis gehabt, glaube ich nicht; auch bei Robert Schumann nicht; es sind die Geistesheroen, die von überzarter, nervlicher Konstitution sind, sich aber dennoch gewaltig geistig überanstrengen; irgendwann bricht dann ihre Denkkraft zusammen.) Auch Schopenhauer hat tief in die Welt geblickt, aber er - offenbar ein robuster Mensch - hat seine ungeheuerlichen Beobachtungen ausgehalten. Nicht umsonst hat Nietzsche die Oberflächlichen positiv gesehen: „Es ist ihr erhaltender Instinkt“, philosophierte er einmal, „der die Menschen lehrt, flüchtig, leicht und falsch zu sein. Das wisse nur der, der tief in die Welt gesehen hat und der dann die Oberflächlichkeit der Menschen für weise hält…“

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https://d-nb.info/975162705/34

Wenn man das richtig deuten wollte was Nietzsche damit aussagen will, der muss lesen. In einem kurzen Statement ist das hier nicht zu erklären, das er aber mit der Kirche im Clinch gelegen hatte, soviel vorneweg, denn deren Moralverständnis passt ja nun wirklich nicht und die Skandale der katholischen Kirche zeugen davon, wie es wirklich damit aussieht.

Nietzsche ist ein typisches Pastorenkind, dem die Moralpredigten und Strenge seiner Eltern gehörig auf die Eier ging.

Mit seinen Moral-aussagen wollte er sich wahrscheinlich von seinem „Übervater“ emanzipieren.