Warum war früher die Gebärdensprache verboten?

6 Antworten

Von Experte Selkiade bestätigt

Hallo,

der Gedanke dahinter war, daß Gehörlose in einer Welt leben, die überwiegend von Hörenden geprägt ist und sie lernen sollten, sich auch in dieser Welt zurechtzufinden, in der kaum jemand die Gebärdensprache beherrscht. Sie sollten lernen, von den Lippen zu lesen und wichtige Worte zu lautieren. So sollte vermieden werden, daß Gehörlose nur in ihrer eigenen kleinen Welt leben.

Die Kehrseite der Medaille war, daß man ihnen so die einzige vollwertige Sprache genommen hatte, die ihnen zur Verfügung stand. Es wurde über ihren Kopf hinweg entschieden und sie wurden künstlich in einem infantilen (infantil=sprachlos) Zusatnd gehalten, auch als Erwachsene.

Daß es auch anders geht, zeigen Länder wie die USA, in denen Gebärdensprache selbstverständlich ist und auch außerhalb der Gehörlosenwelt von vielen beherrscht wird. Gebärdendolmetscher bei öffentlichen Veranstaltungen und Fernsehsendungen sind grundsätzlich dabei, während in Deutschland DVDs von deutschen Serien oft nicht einmal mit Untertiteln ausgestattet sind, auch wenn sie neu erschienen sind.

Immerhin ist die Gebärdensprache inzwischen auch bei uns als vollwertige Sprache anerkannt. Bis aber wenigstens alle Lehrer an einer Förderschule für Hören und Kommunikation die deutsche Gebärdensprache beherrschen oder Gebärdendolmetscher bei öffentlichen Veranstaltungen nicht mehr eine Sache des Zufalls sind, wird wohl noch einige Zeit vergehen.

Herzliche Grüße,

Willy

Selkiade  26.03.2023, 20:59
(infantil=sprachlos)

Jemand ist infantil, wenn er oder sie nicht die Reife und den Ernst zeigt, die man von einem Erwachsenen erwartet, sondern sich stattdessen wie ein Kind verhält.

Gerade bei behinderten Menschen ist oftmals sogar Infantilisierung zu beobachten. Also das der erwachsene Mensch mit Behinderung immer noch als Kind wahrgenommen und dadurch von anderen Menschen bevormundet wird.

Was hat das also mit Sprachlosigkeit zu tun?

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Willy1729  27.03.2023, 09:46
@Selkiade

Infantil kommt vom lateinischen infans, nicht sprechend, stumm. Das ist die Grundbedeutung dieses Wortes. Alles andere wie kindlich usw. ist nur daraus entstanden.

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Von Experte Willy1729 bestätigt

Deine erste Frage hat Willy1729 schon sehr gut beantwortet.

Ich möchte gerne noch weiter auf deine zweite Frage eingehen:

Nebenbei wollte ich noch fragen, warum diese Sprache nicht in der Verfassung als Landessprache definiert ist.

Das Verbot bestand sehr lange und in dieser Zeit durfte es logischerweise auch keine Gebärdensprache als Landessprache geben.

In Frankreich wurde das Gebärdenverbot in Schulen erst 1991 per Gesetz aufgehoben. Das ist gerade mal 32 Jahre her!

Die gesamten Beschlüsse vom Mailänder Kongress von 1880 die Gebärdensprache zu verbieten wurde sogar erst 2010 aufgehoben. Dieses Verbot gab es also 130 Jahre, während die Aufhebung des Verbotes gerade mal 13 Jahre her ist.

Durch das Verbot per Gebärdensprache zu kommunizieren, gab es jedoch auch in diesen 130 Jahren keine bzw. nur sehr wenige neue Erkenntnisse zu dieser Sprache.

Aber wie Willy schrieb ist die Gebärdensprache mittlerweile bei uns zumindest "als vollwertige Sprache anerkannt". Das ist schon viel wert, wenn man überlegt, dass gehörlose Kinder offiziell erst seit 13 Jahren wieder ihre Muttersprache nutzen dürfen, ohne Angst vor Strafen haben zu müssen.

Bis heute hat die Gebärdensprache allerdings nicht mehr die gleiche Stellung wiedererlangt, die sie vor dem Verbot hatte.

Bis es aber auch als Landessprache anerkannt wird, werden noch mindestens etliche Jahrzehnte vergehen - wenn es denn überhaupt mal soweit kommt...

Woher ich das weiß:Berufserfahrung – Heilerziehungspflegerin/ Ally der Behindertencommunity

Frage 1:

Bundeswehr, Krankenhaus, Arbeit, Verein, Hilfsorganisationen, Universitäten … : Es gibt immer Menschen, die es nicht lassen können über andere zu Herrschen. Früher war das noch erheblich ausgeprägter. Im Fall der Gehörlosigkeit begann das mit dem Mailänder Kongress und unsere „Anstalten“ haben das dann auf das härteste fortgeführt.

Frage 2:

Der deutsche Bundestag hat ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben ob Gebärdensprache Amtssprache sein kann. Dieses ist so stümperhaft einfach, das kann jeder Studienanfänger. Leider ist man nicht bereit die vielfältigen möglichen rechtlichen Mittel zu prüfen und auszuschöpfen, die es gibt.

Und wie hatten diese Kinder Gebärdensprache erlernt, wenn diese doch - wie du behauptest - "verboten" gewesen sei? Kannst du eine Quelle dazu anführen?

Könnte es sein, dass du vielleicht den Kontext ein wenig missverstanden hast?
Dass es vielleicht keine richtige "Gebärdensprache" war, sondern dass sich Kinder untereinander selbst vereinbarte Zeichen gegeben hatten, um an den Erwachsenen vorbei zu kommunizieren? (ich spekuliere mal ein wenig)

Es gibt z.B. die Kryptophasie, Kinder (oft Zwillinge) kommunizieren dann in einer eigenen erfundenen Sprache miteinander (das kann vokale Sprache sein oder in Gebärden ausgedrückt werden). Man nennt so etwas auch "Zwillingssprache".

saxboy 
Fragesteller
 26.03.2023, 20:15

Quelle? Ja, die Aussage von Sandro Brotz am Freitag bei SRF Arena. Die Frau vom Gehörlosenbund hat ihm zugestimmt.

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Selkiade  27.03.2023, 09:58
Und wie hatten diese Kinder Gebärdensprache erlernt, wenn diese doch - wie du behauptest - "verboten" gewesen sei?

Da die Gebärdensprache ihre Muttersprache war, in der sie jedoch nicht kommunizieren durften, haben sie die heimlich erlernen müssen.

Es gab ja auch in der Zeit, in der GS verboten war, genügend Menschen, die sie schon vorher erlernt hatten und die ihr Wissen trotz Verbot an die Kinder weitergegeben haben. Die haben sich damit einem extremem Risiko ausgesetzt, aber sie wollten, das betroffene Kinder ihre Muttersprache erlernen konnten.

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Willy1729  27.03.2023, 10:03

Ist schon richtig. Meine Tochter ist gehörlos, daher habe ich auch viele ältere Gehörlose kennengelernt, die das Gleiche berichtet haben. Da die Gebärdensprache mehr oder weniger inoffiziell war, gab es viele regionale Unterschiede selbst zwischen benachbarten Städten. Gehörlose, die in hörenden Familien aufwuchsen, waren oft sehr isoliert, weil viele Eltern nicht bereit waren, die Gebärdensprache zu erlernen. Kommuniziert wurde dann über familieninterne Gesten, die nur für das Nötigste ausreichten.

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buggless  04.11.2023, 20:37

Vor dem Mailänder Kongess sah die Welt anders aus, es gab also Muttersprachler, Gebärdensprachschulen und Vereine.

,Jeder zehnte ist erblich gehörlos. Das bedeutet Gebärdensprach wurde über diese Leute tradiert.

Ja, und du hast vollkommen Recht, die Kinder, die in der Schule verprügelt wurden, wenn sie gebärdet haben, haben auf dem Schulhof gebärdet, was das Zeug hält. Und natürlich, das gemacht, was du gesagt hast. Sie haben für alles was nicht vorhanden war ihre eigene Sprache erfunden.

Das ist auch teilweise noch heute so, da es zu wenig Lehrer gibt, die gebärden können und neue Herausforderungen, wie z.B. die Kommunikation mit CI Trägern hinzukommen. Es ist eben ein ganz normaler Vorgang, das Sprache entsteht und vergeht. Abhängig von den Umstäden mehr mal weniger und immer mit sozialer Funktion.

Man kann tatsächlich auch heute noch Unterschiede zwischen verschiedenen Schulen feststellen. Dieser prägende Einfluss ist bis heute, insbesondere bei älteren Leuten, feststellbar.

Lies dich einfach mal in die Geschichte der Gehörlosigkeit ein. Das könnte für dich eine sehr spannenende Sache sein.

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Wie lange es her ist, dass Kinder wegen des Gebrauchs von Gebärdensprache geschlagen wurden, weiß ich nicht.

Es gab aber Eltern, die Wert darauf legten, dass ihre Kinder taub sein sollten, damit sie nur Gebärdensprache sprächen, weil das die Sprache der Eltern war und sie nicht wollten, dass ihre Kinder sich von ihrer Sprache entfremdeten.

Richtig ist, dass man eine Sprache, die man gut beherrschen will, immer wieder gebrauchen sollte.

Gebärdensprache als Landessprache hat wenig Sinn, weil zu wenige sie beherrschen. Außerdem müsste man sich über die Art der Gebärdensprache einigen, weil es da je nach Staat deutliche Unterschiede gibt.

saxboy 
Fragesteller
 26.03.2023, 20:00

Stimmt, es gibt auch in der Gebärdensprache viele Dialekte.

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