Studierwahn?

8 Antworten

Nein, es gibt keinen "Studierwahn". Die Menschen wollen einfach sichere, gut bezahlte Jobs und die ausbildenden Berufe haben es in den letzten Jahrzehnten nicht geschafft, ausreichend attraktiv für junge Menschen zu sein. Verstärkt hat das die Pandemie, in der viele Betriebe sehr große Probleme bekommen haben.

Da bringt es nichts, auf die jungen Leute zu schimpfen, sondern die Bedingungen der Lehre und der anschließenden Berufstätigkeit müssen sowohl finanziell als auch strukturell einfach besser werden.

Das Leben läuft ja selten nach Plan, von daher kommt vieles anders, als ursprünglich gedacht.

Mein persönlicher Eindruck ist auch, daß viel mehr studiert wird als noch vor 30 Jahren, weil sich jeder davon bessere Ausbildung, mehr Geld und Image versprechen. Leider gibt es daher sehr viele unbesetzte Lehrstellen.

Aber die Bundeswehr sucht ja ebenfalls nach Soldaten. Ist aber offenbar nicht cool genug, außerdem hat kaum einer mehr Lust, für sein Land ev.mal in den Krieg ziehen zu müssen.

Einen Studierwahn gibt es nicht; es ist nur so, dass die Bildungsinhalte sich massiv verdünnt haben in den letzten 20-30 Jahren. Was heute auf BA-Niveau gelernt wird, war früher teilweise Schulstoff. Beispiel: Wie schreibe ich einen zusammenhängenden Text? Wie argumentiere ich richtig? Dazu gibt es heutzutage Seminare; früher lernte man das in der Unterstufe des Gymnasiums oder sogar der Realschule. Von Rechtschreibung und anderen Grundkompetenzen sowie Allgemeinwissen gar nicht zu reden.

Insofern: Ja, lebenslanges Lernen ist angesagt. Man lernt heute nicht mehr systematisch, sondern in Häppchen. Hier mal ein YouTube-Tutorial, dort schnappt man wieder was auf und so stückelt sich der Mensch irgendwie zusammen. Dann hat jede Institution wieder eigene Vorgaben, sodass das mühsam erlernte Wissen schnurstracks über den Haufen geworfen werden und man wieder bei Null anfangen muss.

Strukturzerfall nennt sich das. Hat zwar Vor-, aber eben auch Nachteile.

PapaSchulte 
Fragesteller
 28.02.2024, 10:24

Argumentieren kann man nicht lernen. Das argumentieren liegt im Bereich der menschlichen Fähigkeiten, des logischen Verständnisses und des menschlichen Denkvermögens. Entweder man kann es, oder eben nicht ;)

Arbeitgeber müssen davon weg kommen, Papierzeugnisse als Beweis für Fähigkeiten anzuerkennen. Man sollte den Menschen und die wirklichen Fähigkeiten sehen, nicht den Pseudobeweis aus einem seit Jahrzehnten veraltetem Bildungssystem.

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LacLeman  28.02.2024, 10:29
@PapaSchulte

Doch, man sollte sich schon merken können: Einleitung, Hauptteil, Schluss. Wenigstens. Und dann den Unterschied zwischen Behauptung, Stützung und Beispiel. Ist alles nicht so schwierig. Das kann man schon lernen, wenn man will.

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Avicenna89  28.02.2024, 10:40
@PapaSchulte

Ja, das Argumentieren kann man schon lernen. Vor allem auch die Fähigkeit, Argumente anderer zu erkennen und von Scheinargumenten zu unterscheiden. In einer Zeit, die von Historikern bereits "postfaktisch" bezeichnet wird, wird diese Fähigkeit immer relevanter. Und die erwirbt man sich durch Methodenkompetenz und Bildung. Nicht zwangsweise eine universitäre Bildung, das kann und sollte auch im Rahmen beruflicher dualer Ausbildungen im Standard-Lehrplan stehen, aber sich hier einfach nur auf die Begabung der Menschen zu verlassen halte ich als jemand, der auch regelmäßig nachweislich hochintelligente Menschen in Denkfallen tappen sieht, für fahrlässig.

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Avicenna89  28.02.2024, 10:30

"Strukturzerfall" ist das falsche Wort, weil ja am Ende dieses Prozesses eine mindestens so nachhaltige Struktur herauskommen kann (und höchstwahrscheinlich wird) wie vorher. Von einem "Zerfall" zu sprechen indiziert, dass es hinterher schlechter ist als vorher. Ich würde es eher "Strukturwandel" nennen.

Was meinst du mit "früher", wenn du davon schreibst, dass man auf der Unterstufe nicht mehr wie "früher" lernt, zusammenhängende Texte zu schreiben? Ich habe die Unterstufe 2005 verlassen, aber eine nahe Verwandte von mir ist Gymnasiallehrerin für Englisch und Deutsch und kann solche Entwicklungen zumindest bis zu unserem letzten Treffen vor wenigen Wochen nicht berichten.

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LacLeman  28.02.2024, 10:33
@Avicenna89

Mit "früher" meinte ich, wie schon erwähnt, die Zeit vor 20-30 Jahren.

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Avicenna89  28.02.2024, 10:43
@LacLeman

ja gut, ich habe vor 15 Jahren mein Abitur gemacht und vor 18 Jahren meine mittlere Reife. Da war das Verfassen zusammenhängender Texte noch eine Kompetenz, ohne die man die Realschule nicht erfolgreich hätte abschließen können. Und es ist äußerst unwahrscheinlich, dass zwei bis zwölf Jahre vor meinem Eintritt in die Unterprima die Ansprüche einen Deut höher gewesen sein könnten. Zumindest geistern dafür im Internet zu viele Gegenbeispiele herum.

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LacLeman  28.02.2024, 10:59
@Avicenna89

Na ja, das Internet ist nicht unbedingt der ideale Ort, um abzulesen, ob einer argumentieren kann oder nicht. Hier gilt die schnelle, unmittelbare Reaktion und nicht die Differenzierung, wie sie etwa in einem Buch oder einem ausführlichen Artikel möglich ist. Vor 30 Jahren war das eben anders.

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Avicenna89  28.02.2024, 11:58
@LacLeman

Nun, die wenigsten schreiben im Laufe ihrer Karriere Bücher oder ausführliche Artikel. Daher wird man das daran noch weniger messen können als am Internet.

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LacLeman  28.02.2024, 12:07
@Avicenna89

Doch, denn beim Verstehen der Argumente fängt es schon an. Viele sind heute gar nicht mehr in der Lage, den Inhalt eines halbwegs komplexen Artikels, geschweige denn eines Buches, in eigenen Worten wiederzugeben.

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Avicenna89  28.02.2024, 12:09
@LacLeman

Das wundert mich. Wie gesagt, habe ich eine nahe Verwandte, die sprachliche Fächer unterrichtet und kann von solchen Defiziten nicht berichten. Liegt es vielleicht an deinem Bundesland? Ich stamme aus Baden-Württemberg.

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Avicenna89  29.02.2024, 07:07
@LacLeman

... Und wie gesagt, wirkliche Argumentation praktizieren die wenigsten. Ob sie's gelernt haben oder nicht.

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LacLeman  29.02.2024, 14:06
@Avicenna89

Doch, sie praktizieren sie schon, aber nicht zwangsläufig auf GF oder im Internet.

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Avicenna89  29.02.2024, 15:46
@LacLeman

... nur dass sich kaum jemand noch außerhalb des Internets informiert.

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Also die meisten Leute, die ich kenne, die wollen studieren. Aber ich kenne auch Leute, die als Azubis glücklich sind, weil sie nicht mehr in die Schule gehen wollten, sowieso nicht studieren wollten usw. Bei mir ist das so, dass ich sehr bald studiere und mir vor ein paar Jahren überlegt habe: Möchte ich eine Lehre machen. Aber meine Antwort war ganz klar Nein, da es meinen Traumberuf nicht als Lehre gibt.

Irgendwie werden Studierende höher gestellt als Azubis (ist mir zumindest mal aufgefallen) was ja falsch ist. Aber es gab auch schon Geschichten wo ein Freund eine Lehre im Verkauf machte und dort Jahrelang arbeitete, und dann kam einer frisch von der Uni und wurde sein Chef, was ihn etwas geärgert hatte.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Ich helfe gerne
PapaSchulte 
Fragesteller
 28.02.2024, 10:30

Welchen Beruf stellst du dir vor?

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Es gab eine Zeit lang in der Tat etwas, das diverse Bildungsexperten als "Akademisierungswahn" bezeichnet haben. Durch die unpassende Einordnung des dualen Ausbildungssystems, das wir hier in Europa haben (und in anderen Teilen der Welt oft nicht) wurden Ziele verfolgt, die es nicht gebraucht hätte. Gleichzeitig versprach ein abgeschlossenes Studium oftmals auch ein hohes Einkommen. Insbesondere, wenn man an in die Medizin, Jus oder die Ingenieurwissenschaften denkt. Dabei vergisst man oft aber auch die anderen Fächer, in denen die Lücke zu Ausbildungsberufen gar nicht so groß ist.

Tatsache ist jedoch, dass heutzutage viele handwerkliche Ausbildungen aufholen. Wer sich mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung weiterbildet (bspw. einen Meister oder Techniker macht), hat statistisch betrachtet ein höheres Lebenseinkommen zu erwarten als der durchschnittliche Akademiker. Und auch, wenn man sich die Berufe detaillierter anschaut, sieht man, dass nicht jeder Akademiker übers Leben verteilt mehr Einkommen generiert als jeder Ausgebildete (vgl. diese Studie). Und wenn man mal daran denkt, wie lange man auf einen Handwerkertermin warten muss - Deren Arbeitszeit ist inzwischen ein knappes Gut, die sie sich auch entsprechend zahlen lassen können.

Wie lukrativ ein Job ist, hängt also in der Marktwirtschaft keineswegs allein vom Studienabschluss ab. Das wird den Leuten auch zunehmend bewusst und sie entscheiden inzwischen wesentlich differenzierter als noch zu Zeiten, als das Wort der OECD heilig war.

PapaSchulte 
Fragesteller
 28.02.2024, 10:31

Gute Antwort 👍

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swisstime  28.02.2024, 11:31

Ja, gut geschrieben👍🏻

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