Ist eine wissenschaftliche Theorie ein Fakt?

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Hallo CatDough,

das Problem ist, dass wir in der Alltagssprache Begriffe oft anders verwenden als in der Wissenschaftstheorie... und dadurch entstehen Missverständnisse.

Ganz allgemein sind naturwissenschaftliche Theorien Erklärungsmodelle. Also Modellvorstellungen, die unter der Annahme, dass in der Natur bestimmte natürliche Prozesse gesetzmäßig ablaufen, verschiedene Erklärungen in einen logischen Kontext stellen.

Damit unterscheidet sich der naturwissenschaftliche Begriff der Theorie von der Bedeutung dieses Wortes in der Umgangssprache: Umgangssprachlich meinen wir damit eine Idee, eine Vermutung ... oder auch das Gegenteil von Praxis. Wer "theoretisch" ein Auto fahren kann, meint damit in aller Regel, dass er es eigentlich können müsste, diese Fähigkeit aber zumindest lange nicht in der Praxis getestet hat.

Eine naturwissenschaftliche Theorie muss dagegen bestimmte Kriterien erfüllen, um "wissenschaftlich" zu sein:

  • Sie muss bestimmte Beobachtungsdaten in einen gemeinsamen logischen Kontext stellen - also als Folge eines gesetzmäßigen Prozesses beschreiben und erklären: Sie erklärt, warum wir diese Beobachtungen haben
  • Sie muss exakte Vorhersagen für weitere Beobachtungen machen. Exaktheit bedeutet hier: Sie muss beim Nichteintreffen der Vorhersagen an der Natur scheitern können.
  • Sie muss frei sein von inneren Widersprüchen
  • Sie muss frei sein von äußeren Widersprüchen - also zu Beobachtungsdaten und anderen gesicherten naturwissenschaftlichen Aussagen
  • Sie muss interdisziplinär anknüpfen an das Erkenntnisgebäude der Naturwissenschaft

Die Aussage, dass eine naturwissenschaftliche Theorie eben "nur eine Theorie" sei, ist also grundlegend daneben. (https://www.forum-grenzfragen.de/nur-eine-theorie-alltags-versus-wissenschaftssprache/)

Aber wie schaut es jetzt mit der Faktizität aus?

Was hat es also mit dem Zusammenhang von Theorie und Fakt bzw. Tatsache auf sich?

Wichtig ist, die Theorie - also das naturwissenschaftliche Erklärungsmodell - NICHT mit dem Gegenstand der Theorie zu verwechseln.

Am einfachsten versteht man es mittels Vergleich mit "Punkt-zu-Punkt-Rätseln". (Also diese Rätsel für Kinder, bei denen nummerierte Punkte auf einem weißen Blatt sind... und wenn man sie verbindet, ergibt sich ein Bild https://images-na.ssl-images-amazon.com/images/I/81voYq8vchL.jpg)

Beobachtungsdaten schaffen Faktizität: Sie geben die Punkte vor, die das naturwissenschaftliche Erklärungsmodell vollständig erklären muss. Die naturwissenschaftlichen Theorien sind so etwas wie die Linien, die wir einzeichnen. Sie müssen alle Punkte logisch verbinden.

Gibt es manche Theorien die zu 100% belegte Fakten sind (und demnach ja keine Theorie mehr oder?)

Nein... aber vielleicht ist jetzt klar, dass das auch gar nicht geht, bzw. das Wesen einer naturwissenschaftlichen Theorie verkennt. Fakten sind immer nur die Messpunkte... Aus den Linien zwischen ihnen werden niemals Messpunkte, egal wie stimmig unser Bild ist. Unsere Theorien, unsere Erklärungsmodelle sind IMMER die logischen Verknüpfungen der Fakten und nicht die Fakten selbst.

Wir können aus philosophischen Gründen die Übereinstimmung von Modell und Wirklichkeit nicht letztbeweisen. Weder können wir unendlich viele Messdaten erheben, noch Messdaten mit unendlicher Genauigkeit vorlegen. Zudem sind Theorien oft sogenannte Allaussagen - also Aussagen, die Allgemeingültigkeit beanspruchen. (Beispiel: "Alle Massen ziehen sich an") Allaussagen sind - anders als Existenzaussagen - philosophisch nie letztbeweisbar, sondern von ihrem Wesen her nur widerlegbar. (https://web.archive.org/web/20180812185611/http://www.nachdenken-bitte.de/erkenntnistheorie/verifikation-und-falsifizierung-von-allaussagen-und-existenzaussagen/)

Wichtig ist aber, dass diese Einschränkung keineswegs eine Eigenschaft der Naturwissenschaft ist: Unser Erkenntnisprozess ist IMMER fehleranfällig; bei allen Aussagen über die Welt - egal, ob naturwissenschaftlich oder nicht - können wir nie letztbeweisen, dass sie korrekt sind. In der Naturwissenschaft gehen wir lediglich möglichst konstruktiv mit dieser unvermeidbaren Irrtumsmöglichkeit um, indem wir alle logischen Schlussfolgerungen IMMER auf dem Prüfstand lassen.

Die Nichtbeweisbarkeit ist also keine Schwäche naturwissenschaftlicher Methodik, sondern eine Folge eines allgemeinen Umstandes: Wir reden vor Gericht oder in der Alltagssprache nur einfach allzu leicht von Beweisen - Beweisen, die philosophischen Ansprüchen genauso wenig genügen würden. In der Naturwissenschaft sind wir lediglich exakt genug, dieses Problem zum Kern unserer Vorgehensweise zu machen und damit den __bestmöglichen__ Grad der Zuverlässigkeit von Aussagen zu erreichen:

Wir können in der Naturwissenschaft zwar nicht letztbeweisen, wohl aber durch handfeste Daten begründen, warum wir von einer Aussage über die Natur überzeugt sind: Wir können bei jeder einzelnen Aussage anführen, durch welche, durch wie viele und durch wie gute Daten sie gestützt wird. Und auch, wie groß der maximale Fehler aufgrund der Daten überhaupt noch sein kann.

Ungefähr klar?

Grüße

"Theorien" stellen immer Vereinfachungen und Abstraktionen der Realität dar.
Sie versuchen das sich in der Realtität abspielende Geschehen auf Gesetzmäßigkeiten zu reduzieren. Das ist grundsätzlich sinnvoll, um auf dieses Weise so etwas wie einen pragmatischen Überblick über die Komplexität der Phänomene zu gewinnen.
Da Theorien vereinfachen, können sie nicht "die volle Wahrheit" widerspiegeln.
Es hat sich als wissenschaftstheoretischer Ansatz als sinnvoll erwiesen, eine Theorie nicht als "voll stimmig" zu beweisen, sondern sie und konkurrierende Theorien daraufhin zu beurteilen, ob sie in sich widerspruchsfrei sind und wie hoch sie belastet werden, durch gegen sie sprechende Befunde. Stichwort für diesen Ansatz: "kritischer Rationalismus".

Tamtamy  03.04.2019, 13:30

 Einige Zeit später:

Hallo! Meine Antwort war nach wenigen Minuten da, eine Reaktion von dir blieb bislang aus. Schade! Über ein 'Danke', bzw. eine positive Bewertung, hätte ich mich gefreut. Eigentlich doch übliche Höflichkeit, wenn sich jemand die Zeit genommen hat, auf eine gestellte Frage vernünftig zu antworten.

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Evolution ist eine Tatsache, die Evolutionstheorie beschreibt und erklärt diese Tatsache. Das ist das Verhältnis zwischen einer wissenschaftlichen Theorie und einer wissenschaftlichen Tatsache.

Fakten sind revidierbar. Das müssen wir annehmen, damit wir überhaupt von empirischen Fakten sprechen können. Würde nur als Fakt gelten, was völlig zweifelsfrei bewiesen wurde, dann gäbe es kaum Fakten. Ergo wäre der Begriff "Fakt" kaum von nutzen. Beispiel: Die Idee, dass Bäume Energie durch Photosynthese gewinnen gilt normalerweise als Fakt, ist aber eigentlich revidierbar.

Das wirft natürlich die Frage auf: Was sind Fakten dann? Ich würde dazu sagen: Fakten unterscheiden sich von Spekulationen durch ein sehr hohes Maß an Expertenkonsens, nachdem die Experten sie gründlich geprüft haben. Der Übergang zwischen Fakt und Spekulation ist also fließend, wie der Übergang zwischen dumm und intelligent. Daraus resultiert, dass wir nicht so leicht definieren können, was ein Fakt eigentlich ist. Dies ist der Preis, den wir für revidierbare Fakten zahlen; aber wenigstens können wir von wissenschaftlichen Fakten reden, ohne uns selbst zu widersprechen.

Fakten sind feststehende Tatsachen und damit nicht das gleiche wie Thesen, Modelle oder Theorien, selbst wenn diese ausgezeichnet belegt sind. Tatsachen sind z.B. die Messergebnisse eines Experiments. Die Interpretation dieser Messergebnisse, also z.B. das Vermuten von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen, ist hingegen vorläufig und falsifizierbar.

Wenn ein wissenschaftlicher Aufsatz kritisiert wird, dann werden eben nicht die Ergebnisse angezweifelt, sondern die Logik der Interpretation oder auch der Versuchsaufbau, der zu diesen Ergebnissen geführt hat. Die Ergebnisse selbst sollten auch nach Jahrhunderten noch Gültigkeit haben.

Wissenschaftliche Theorien beschreiben nicht nur einfache Zusammenhänge, sondern komplexe Phänomene, und setzen sich aus den Erkenntnissen zahlreicher Studien zusammen. Eine Theorie kann noch so gut belegt und noch so fest in das Theoriennetzwerk der Wissenschaft integriert sind, sie bleibt trotzdem durch neue Erkenntnisse falsifizierbar.

Das heißt aber keineswegs, dass diese Theorien deshalb unnütz wären oder eine Widerlegung tatsächlich geschehen muss! Es kommt tatsächlich oft vor, dass Theorien um bestimmte Aspekte ergänzt oder Teilaussagen relativiert werden müssen. Dass ein Modell, das als gesichert galt, wirklich vollständig verworfen werden muss, ist aber äußerst selten.

verreisterNutzer  27.03.2019, 20:34

Also wäre eine Aussage wie "Evolution ist ein Fakt" nicht korrekt?

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DiegoderAeltere  27.03.2019, 20:40
@verreisterNutzer

Doch. Evolution ist ja das Phänomen, das in der Evolutionstheorie beschrieben wird. Evolution ist zwar ein etwas abstraktes Konzept, aber eindeutig beobachtbar und damit real.

Die Evolutionstheorie, die ihre Mechanismen erklärt, und die Abstammungstheorie, die die Abstammung aller Lebewesen durch Evolution auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführt, sind aber eben genau das - Theorien, wenn auch ausgezeichnet belegte und glaubhafte.

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Die Verwendung der Bezeichnung "Theorie" ist in der Wissenschaft und im Allgemeingebrauch unterschidlich.

Im Allgemeinen sagt man..:"... ich habe da eine Theorie...." und meint damit, man ratet mal was zusammen, was sich logiosch anhören könnte und etwas erklären könnte.

Deswegen kommen z.B. Leute mit religiösen Motiven gerne mit genau dieser Wortbenutzung und meine, die Wissenschaft rät nur rum.

Wissenschaftlich ist eine Theorie jedoch eine Wirklichkeitsbeschreibung ausschließlich aufgrund vorliegender belegtbarer Fakten. Ist auch nur etwas angenommen, ist es automatisch keine Theorie mehr.

Eine wissenschaftliche Theorie kann nicht widerlegt werden, sie kann ergänzt oder abgeändert werden, wenn zusätzliche Informationen neu zur Verfügung stehen.

Deswegen, ja, die Evolutionstheorie ist keine Annahme, sie ist belegbar Fakt.

verreisterNutzer  27.03.2019, 20:25

Kannst du garantieren, dass alles geschriebene von dir da stimmt? Ich würde es nämlich gerne für eine powerpoint benutzen und kein müll erzählen

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SirKermit  28.03.2019, 05:23

Eine Ergänzung dazu, eine naturwissenschaftliche Theorie muss widerlegbar sein, denn die Falsifizierbarkeit ist eines der Merkmale, die zu einer solchen Theorie gehört.

Oder meintest du etwas anderes?

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