Heinrich von kleist: das bettelweib von locarno?

2 Antworten

Aus der Sicht des Marchese haben sich die Dinge so abgespielt: Er kam von der Jagd zurück und wollte seine Büchse an der gewohnten Stelle ablegen. Da sah er die heruntergekommene Bettlerin in einem Winkel des Zimmers liegen. "Unwillig" befahl er ihr, sie soll sich hinter den Ofen verfügen. Danach passierte Dramatisches: Die Bettlerin stürzte bei dem Versuch, den Platz hinter dem Ofen zu erreichen, so unglücklich, dass sie verstarb.

Punkt! Aus! Kein weiterer Kommentar des Dichters zum Verhalten des Marchese!

Man kann den Standpunkt vertreten, dass der Marchese sofort den Raum verlassen hat, also von dem Unglück der Bettlerin nichts mitbekommen hat. Dass er vom Unglück der Bettlerin nichts wusste (also den Raum schnell wieder verlassen hatte), dafür spricht sein späteres Verhalten. Er wollte, in finanzielle Schwierigkeiten geraten, sein Schloss verkaufen. Doch in demselben Raum, wo das Bettelweib starb, machte sich ein Geist bemerkbar, der genau die Geräusche von sich gab, die man von der erschöpften Bettlerin erwarten kann: schlurfende Schritte, Geräusche am Ofen, die von einem Sturz künden. Ein Käufer, der in dem Zimmer übernachtet, wird hierdurch abgeschreckt und verzichtet auf den Kauf des Schlosses. Das spricht sich herum.

Der Marchese kann sich diese gespensterhaften Geräusche nicht erklären. Als er selbst mehrere Male - zweimal mit seiner Frau, zuletzt noch mit seinem Hund - probeweise in dem Zimmer übernachtet, vernimmt auch er die seltsamen Geräusche, der Hund desgleichen, denn er schreckt knurrend vor etwas zurück, was man aber nicht sehen kann.

Darauf wird der Marchese wahnsinnig. Er zündet sein Schloss an, das er wegen der Geistererscheinung nicht mehr verkaufen kann. Seine Knochen werden später von Landleuten an genau der Stelle hingelegt, wo er das Bettelweib hat aufstehen geheißen.

Aus der Perspektive des Marchese müsste man sagen: da er die Geräusche nicht mit dem sterbenden Bettelweib in Verbindung bringen kann, ist dieses Sterben auch nicht in sein Bewusstsein gedrungen. Dreimal hat er in dem Zimmer die Geräusche vernommen, auch aus der Erzählung des potentiellen Käufers, der in dem Zimmer übernachtet hat, wusste er von den seltsamen Geräuschen. Er hätte sich jetzt erinnern müssen. Trotzdem kann er diese Geräusche nicht einordnen.

M.E. muss man deshalb davon ausgehen, dass er vom Unglück des Bettelweibes nichts wusste. Keiner wird ihm davon berichtet haben.

Man muss deshalb von der Unschuld des Marchese ausgehen. Allenfalls den unwilligen Ton gegenüber der Bettlerin könnte man anführen, jedoch hat er durch seine Anweisung ja dafür gesorgt, dass die alte Frau ein gemütlicheres, warmes Plätzchen hinter dem Ofen bekam.

Warum aber schreibt Kleist, dass die Landleute die Knochen des Marchese an der Stelle niederlegten, wo das Bettelweib verstarb? Wollte er hierdurch nicht eine Verbindung zwischen dem Verhalten des Marchese und dem Tod der Bettlerin herstellen, eine Verbindung in dem Sinne, dass der Marchese den Tod der Frau schuldhaft verursacht hat?

Andererseits – wie gesagt – kann sich der Marchese keinen Reim auf die seltsamen Geräusche in dem Zimmer machen, was gegen ein Schuldbewusstsein des Grafen spricht (es sei denn, er hat sein eventuell menschenverachtendes Verhalten gegenüber der Bettlerin nicht als Schuld empfunden. Doch was hat er getan? Er hat nur im "unwilligen" Ton mit der Frau geredet. Sonst steht weiter nichts in der Novelle!).

Jemand hat mir gegenüber einmal den Standpunkt vertreten, es ginge Kleist nur um den Gruseleffekt. Ansonsten hätte die Novelle keine weitere Bedeutung.

Ich dagegen sehe in der Kurznovelle einen dichterischen Ausdruck von Kleists Weltanschauung. Durch das Kant-Studium ist er (infolge von Kants Lehre vom Ding an sich, dass man nicht erkennen könne, man könne nur seine Erscheinungen sehen) zu dem Schluss gekommen, die Wahrheit, auch den Willen Gottes, seine eventuelle Bereitschaft zur Vergeltung für schuldhaftes Verhalten, könne man nicht erkennen. Alles Geschehen sei letztlich undurchschaubar, rätselhaft.

Das Schicksal des Marchese ist nach Kleist also letztlich rätselhaft und eigentlich sinnlos. Auf den ersten Blick scheint der Graf die verdiente Strafe bekommen zu haben, weil er das Bettelweib - wie es zunächst den Anschein hat - durch sein barsches Verhalten zugrunde richtete. Doch sieht man genauer hin, ist eine solche Schuld nicht zu erkennen, (unwilliger Ton ist doch nichts Verwerfliches; dass die Frau krank war, hat er womöglich nicht erkannt). Andererseits hat Kleist wieder durch den Schluss der Novelle (Knochen des Marchese an besagter Stelle) den Verdacht erneut schürt, es läge eine Beziehung zwischen Schuld und Schicksal vor.

Man sollte also sagen: Der Marchese ist wahnsinnig geworden, weil er das Schloss nicht verkaufen kann und weil die Gespenstererscheinung ihn verrückt gemacht hat.

[Ähnlich auch die Intention in der Novelle „Erdbeben in Chili“: Ein zum Tode verurteiltes Liebespaar wird durch das Erdbeben, quasi durch das Eingreifen Gottes, gerettet. Alle, die am Todesurteil beteiligt waren, die Priester, der Erzbischof etc., gehen unter. Doch nachdem die Kirchenvertreter sich von dem Schock wieder erholt haben, wird das Liebespaar von dem Mob, der von einem Priester aufgehetzt wird, bestialisch ermordet. Kleist hatte also zunächst suggeriert, Gott habe durch das Erdbeben zugunsten des Liebespaares eingegriffen, doch hinterher stellte sich das als Illusion heraus.]

Haldor  28.02.2018, 11:56

Spassbremse1, danke für das Kompliment!

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Hallo,

die Geschichte ist ja recht gruselig und der Marchese, der die Bettlerin abfällig, mit Verachtung behandelt hat, hat Schuld auf sich geladen.

Ich würde die Geschichte so schreiben, dass der Marchese durch den Besuch eines potentiellen Käufers seines Schlosses, des florentinischen Ritters, an die Situation mit der Bettlerin wieder erinnert wird. Er hatte sie im Laufe der Jahre vergessen, da er ihr keine Bedeutung beigemessen hat.

Im Laufe der Überprüfungen der Spukereignisse erinnert er sich immer genauer an die frühere Situation, bekommt dadurch Angst und ein schlechtes Gewissen.

In der Schlusszene, wo er mit der Marquise und dem Hund zusammen die Nacht im Zimmer des Bettelweibs übernachtet, sind seine Angst und sein Schuldgefühl so groß, dass er sozusagen durchdreht, verrückt wird.

Man könnte sich vorstellen, dass er in seinem Wahn durch Feuer den Spuk zerstören will und deshalb das Schloss anzündet und in ihm verbrennt.

Du könntest die Geschichte in der Ich-Form erzählen ("Ich" ist der Marchese):

Die Hausfrau meines Schlosses hatte einer Bettlerin für die Nacht Einlass gegeben. Ich entdeckte sie, als ich eines Tages von der Jagd zurückkam und zufällig ein Zimmer betrat, in dem eine alte Frau auf einem Strohlager zu Boden lag. Das Weib war mir zuwider, es ging mir auf die Nerven. Ich herrschte sie an, hinter den Ofen zu verschwinden (usw.).

Gruß

eddiefox  27.02.2018, 14:45

Berichtigung:

In der Schlusszene, wo er mit der Marquise (seiner Frau) und dem Hund zusammen die Nacht im Zimmer des Bettelweibs verbringt, sind seine Angst...

("'die Nacht übernachtet" ist keine gute Ausdrucksweise)

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