Gibt es Literatur zum "Fluch" in der griechischen Mythologie?

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Nachschlagewerke und Darstellungen zur Mythologie enthhalten meistens eher Informationen zu einzelnen mythischen Personen bzw. Familien. Allgemeine übergreifende Veröffentlichungen sind zu dem Thema schwierig zu finden. Außerdem bezieht sich die Literatur in starkem Ausmaß auf Religion bzw. Vorstellung von Magie im Leben der Gesellschaft, bis hin zu den Praktiken/Ritualen der Verfluchung, und auf das Recht, weil in ihm Regelungen enthalten sind und Schadenzauber verboten ist.

Im Zusammenhang mit der griechischen Mythologie ist auch auf andere Begriffe als Fluch zu achten. Es geht um eine mythische Weltordnung und darin wirkende Gottheiten und Schickalsmächte. Es stellt sich die Frage, ob strenge Notwendigkeit herrscht oder menschliche Freiheit mit einem Spielraum gegenüber Faktoren, die als Ursachen etwas bewirken, besteht.

Die Auffassungen der antiken Autoren sind dazu nicht völlig einheitlich. Ab etwa 300 v. Chr. gibt es auch Einflüsse stoischer Gedanken mit einer bestimmten philosophischen Auffassung von Notwendigkeit beim Begriff der Heimarmene (εἱμαρμένη), das Schicksal/die Schicksalsnotwenigkeit/der vom Schicksal verhängte Teil, wobei eine ethische Wichtigkeit menschlicher Entscheidungen damit nicht gut vereinbar ist und beides zusammen nicht widerspruchsfrei, ohne einen gewissen logischen Bruch vertretbar ist.

Fluch heißt ἆρα (ara).

Bei der Vorstellung eines Fluches liegt eine Sichtweise von einer Weltordnung zugrunde, in der die Dinge im großen Ganzen und langfristig betrachtet in einem Zustand sind, wie es recht ist. Eine Schuld muß gesühnt werden. Eine heilige Macht wird durch menschlichen Frevel erzürnt. Der Fluch, der die Übergriffe begehenden Menschen trifft und ihnen Unglück bringt, ist in der mythischen Vorstellung ein Ausgleich. Ein gestörtes Gleichgewicht wird zwischen Menschen und heiliger Macht sowie den Menschen untereinander wiederhergestellt.

Es gibt eine Unterscheidung zwischen einem Straf- und Vergeltungsfluch, der Verderben, Vernichtung und Tod bringt, und einem Schadenzauber, der aus Haß, Neid, Eifersucht, Habgeir und Rachebegierde ausgeübt wird und so einen Fluch zu eigensüchtigen und ungerechten Zwecken mißbraucht, daher als gemeinschaftszerstörend verfolgt wird.

Außer den Gottheiten (Götter und Göttinnen) allgemein und Orakelsprüchen, mit denen diese ihren Willen kundtun oder Hinweise geben, gibt es in der mythischen Weltordnung besondere Schicksalsmächte:

  • Moira (Μοῖρα) bzw. die Moiren (Μοῖραι) (μοῖρα = Teil, Los, Schicksal)
  • Aisa (Αἶσα) (αἶσα = Anteil, Portion, Lebenslos, Geschick, der von der Gottheit zugewiesene Schicksalsanteil)
  • Nemesis (Νέμεσις), vorwiegend rächend und strafend (νέμεσις = angemessene/gebührende Zuteilung; gerechter Unwille, berechtigter Zorn, Vergeltung)

eng mit ihnen verbundene Göttinnen sind:

  • Ananke (Ἀνάγκη), philosophische Allegorie der Naturnotwendigkeit (ἀνάγκη = Notwendigkeit, Zwang)
  • Ate (Ἄτη), Göttin der Verblendung (und des sich ergebenden Schadens)
  • Themis (Θέμις), Göttin des Rechts/der (traditionellen) Rechtsordnung/der heiligen Satzung
  • Dike (Δίκη), Göttin des Rechts, das in der Rechtsprechung zum Ausdruck kommt
  • Erinnyen/Erinyen (Ἐρινύες [Erinyes]; Singular: Ἐρινύς [Erinys] = Erinnye/Erinye), Rachegöttinnen (ἐρινύς = Rache, Strafe, Fluch, Verderben), verfolgen schwerwiegende Verstöße gegen die Weltordnung, insbesondere Blutschuld (mit Blutvergießen verbundenes Verbrechen), insofern sind sie einerseits Rächerinnen, andererseits Schützerinnnen der Ordnung; werden in einem schönklingenden beschwichtigenden Namen Eumeniden (Εὐμενίδες [Eumenides; «Wohlmeinende», «Wohlgesinnte», «Wohlwollende») genannt.

In Tragödien kommt Alastor (Ἀλάστωρ) vor, ein Rachegeist (nötigt insbesondere, Blutschuld zu sühnen).

Es ist auch die Rede von einem Geschlechterfluch/Familienfluch, z. B. einem Tantalidenfluch/Pelopidenfluch/Atridenfluch oder einem Labdakidenfluch. Ein Fluch trifft nicht nur eine Person, sodern auch mit ihm verbundene Personen und setzt sich mehrere Generationen lang fort.

Literatur

allgemein

Dorothea Frede, Schicksal. In: Der neue Pauly (DNP) : Enzyklopädie der Antike ; Altertum. Herausgegeben von Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Band 11: Sam -Tal. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2001, Spalte 156 - 158

Fritz Graf, Fluch II. Griechenland und Rom. In: Der neue Pauly (DNP) : Enzyklopädie der Antike ; Altertum. Herausgegeben von Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Band 4: Epo – Gro. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 1998, Spalte 573 - 574

Fritz Graf, Fluch und Verwünschung. In: Vassilis Lambrinoudakis/Jean Ch. Balty, Thesaurus Cultus et Rituum Antiquorum (ThesCRA) 3: Divination, prayer, veneration, hikesia, asylia, oath, malediction, profanation, magic rituals and addendum to vol. II: Consecration. Los Angeles : J. Paul Getty Museum Publications, 2005, S. 247 - 270

Fritz Graf, Gottesnähe und Schadenzauber : die Magie in der griechisch-römischen Antike. München : Beck, 1996 (C. H. Beck Kulturwissenschaft). ISBN 978-3-406-41076-5

Udo Reinhardt, Der antike Mythos : ein systematisches Handbuch. 1. Auflage. Freiburg im Breisgau ; Berlin ; Wien : Rombach, 2011 (Rombach-Wissenschaften, Reihe Paradeigmata ; Band 14). ISBN 978-3-7930-9644-3 (Kapitel 3: Die konstitutiven Grundkategorien des frühgriechischen Mythos. e. Die Integration des Geschehens in einen göttlichen Schicksalsplan S. 207 – 237 und f. Zusammenfassung: Das mythische Weltbild S. 238 [Schicksalsmächte])

Wolfgang Speyer, Fluch. In: Reallexikon für Antike und Christentum : Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt. Im Auftrag der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften bearbeitet im Franz-Joseph-Dölger-Institut der Universität Bonn. Begründet von Franz Joseph Dölger, Theodor Klauser, Helmut Kruse, Hans Lietzmann, Jan Hendrik Waszink. Band 7: Exkommunikation - Fluchformeln. bearbeitet im Franz Joseph Dölger-Institut an der Universität Bonn. Herausgegeben von Theodor Klauser in Verbindung mit Carsten Colpe, Albrecht Dihle, Bernhard Kötting, Jan Hendrik Waszink. Stuttgart : Hiersemann, 1969, Spalte 1160 - 1288

Hendrik Simon Versnel, Fluch und Gebet : magische Manipulation versus religiöses Flehen? : religionsgeschichtliche und hermeneutische Betrachtungen über antike Fluchtafeln. Berlin ; New York : de Gruyter, 2009 (Hans-Lietzmann-Vorlesungen ; Heft 10). ISBN 978-3-11-022635-5

Homer

Martina Hirschberger, Götter. In: Homer-Handbuch : Leben - Werk – Wirkung. Herausgegeben von Antonios Rengakos und Bernhard Zimmermann. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2011, S. 278 – 291

Walter Pötscher, Moira, Themis und τιμή im homerischen Denken. In: Wiener Studien : WS 73 (1960), S. 5 – 39; Wiederabdruck: Walter Pötscher, Hellas und Rom : Beiträge und kritische Auseinandersetzung mit der inzwischen erschienenen Literatur. Hildesheim ; Zürich ; New York : Olms, 1988 (Collectanea ; Band 21), S. 90 - 124

Efstratios Sarischoulis, Schicksal, Götter und Handlungsfreiheit in den Epen Homers. Stuttgart : Steiner, 2008 (Palingenesia ; Band 92). ISBN 978-3-515-09168-8

Efstratios Sarischoulis, Motive und Handlung bei Homer. Göttingen : V & R Unipress, 2008. ISBN 978-3-89971-493-7

Arbogast Schmitt, Selbständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer : hermeneutische Untersuchungen zur Psychologie Homers. Mainz : Akademie der Wissenschaften und der Literatur ; Stuttgart : Steiner, 1990 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz : Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse ; 1990, Nr. 5). ISBN 3-515-05726-9

Arbogast Schmitt, Gott und Mensch bei Homer. In: Homer : der Mythos von Troia in Dichtung und Kunst ; [eine Ausstellung des Antikenmuseums Basel, des Art Centre Basel und der Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim ; Katalog ; Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig, 16. März - 17. August 2008 ; Reiss-Engelhorn-Museen mit Curt-Engelhorn-Zentrum, Mannheim, 13. September 2008 - 18. Januar 2009]. Gesamtleitung: Joachim Latacz. Redaktion. Ella van der Meijden, Thierry Greub, Esaù Dozio. Übersetzungen Katalog-Essays: Joachim Latacz, Petra Schierl. Übersetzungen Katalogteil: Ivo Zanoni, Areti Tsakiris-Konini. München : Hirmer, 2008, S. 164 – 170

Atridenfluch

Robert Bees, Aischylos : Interpretationen zum Verständnis seiner Theologie. München : Beck, 2009 (Zetemata : Monographien zur klassischen Altertumswissenschaft ; Heft 133). ISBN 978-3-406-58804-4

Sabine Föllinger, Genosdependenzen : Studien zur Arbeit am Mythos bei Aischylos. Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 2003 (Hypomnemata : Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben ; Band 148). ISBN 3-525-25247-1

Franziska Geisser, Götter, Geister und Dämonen : Unheilsmächte bei Aischylos - zwischen Aberglauben und Theatralik. München ; Leipzig : Saur, 2002 (Beiträge zur Altertumskunde ; Band 179). ISBN 978-3-598-77728-8

Lutz Käppel, Die Konstruktion der Handlung in der „Orestie“ des Aischylos : die Makrostruktur des ‚Plot‘ als Sinnträger in der Darstellung des Geschlechterfluchs. München : Beck, 1998 (Zetemata : Monographien zur klassischen Altertumswissenschaft ; Heft 99). ISBN 3-406-44860-7

Lutz Käppel, Der Fluch im Haus des Atreus: Von Aischylos zu Eugene O’Neill. In: Antike Mythen in der europäischen Tradition. Herausgegeben von Heinz Hofmann. Tübingen : Attempto, 1999, S. 221 – 242

Rainer Thiel, Chor und tragische Handlung im „Agamemnon" des Aischylos. Stuttgart : Teubner, 1993 (Beiträge zur Altertumskunde ; Band 35). ISBN 3-519-07484-2 (gegen unausweichlich notwendiges Schicksal; Agamemnon hat einen Fehler begangen)

verreisterNutzer  31.10.2016, 10:29

Vielen, vielen Dank für diese wirklich sehr hilfreiche Antwort! Genau so eine Antwort habe ich mir erhofft :-)

Einzige Rückfrage: Woher stammt die Zusammenfassung des Fluchbegriffs ("Bei der Vorstellung eines Fluches...")? Sollte es dazu eine konkrete Quellenangabe geben, würde ich mich sehr darüber freuen, wenn du sie hier posten könntest!

Tausend Dank!

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Albrecht  31.10.2016, 14:28
@verreisterNutzer

Ich habe mich dabei vor allem auf die genannten Veröffentlichungen von Wolfgang Speyer und Udo Reinhardt gestützt. Genau wörtlich abgeschrieben ist es nicht.

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Albrecht  07.11.2016, 01:04

auch zum Thema:

Sebastian Zerhoch, Erinys in Epos, Tragödie und Kult : Fluchbegriff und personale Fluchmacht. Berlin ; Boston : De Gruyter, 2015 (Philologus : Zeitschrift für antike Literatur und ihre Rezeption / Supplemente ; Band 4). ISBN 978-3-11-044159-8

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verreisterNutzer  11.11.2016, 22:26
@Albrecht

Lieber albrecht, vielen, vielen Dank für deine Hilfe!! Das letzte von dir genannte Werk (Zerhoch) habe ich durch deine Anregungen bereits selbst gefunden. 
Wirklich 1000 Dank! Das hat mir wirklich geholfen!

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Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie liest sich gut und lohnt sich immer. Allerdings geht es in den Griechischen Mythen eher um den Zorn einer Göttin oder eines Gottes als um einen "Fluch". Einem Fluch am nächsten kommt m.E. Oidipous Thyrannos, König Ödipus.

verreisterNutzer  24.10.2016, 10:38

Ich bin hauptsächlich auf der Suche nach wissenschaftlicher Literatur bzw. Sekundärliteratur zum Thema "Fluch" in der griech. Mythologie. Im Fokus vor allem der Atridenfluch. Hast du dazu evtl auch einen Tipp? 

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Ottavio  24.10.2016, 11:02
@verreisterNutzer

Google gwlb, geh auf Katalog, Suchbegriff Atriden. Du findest neun Titel. Alles gehört in den Bereich Theaterwissenschaften. Such Dir eine wissenschaftliche Bibliothek in Deiner Nähe.

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Ottavio  24.10.2016, 12:01
@Ottavio

Eine wunderbare, kurze, aber hinreichend ausführliche Darstellung des Fluches der Atriden ist:

Roberto Calasso, Der Mythos, in:

Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Die Rasenden (Programmheft).

In Bibliotheken oder Buchhandlungen wirst Du das wohl nicht finden. Ob es das in Hamburg noch gibt, weiß ich nicht, aber ich vermute. Die bisher letzte Aufführung ist anderthalb Jahre her. Google mal die Telefonnr. und ruf dort an!

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Ich habe leider in einer kurzen Suche im Internet auch nichts gefunden. Die Macht des Fluches ist meines Wissens eine Negativausprägung der magischen Macht des Wortes. Nicht nur bei den Griechen, auch in der Bibel schafft Gott seine Schöpfung durch die Macht seines magischen Wortes als Ausdruck der Verdichtung seines allmächtigen Willens. Die Logos-Theorie (noch bis ins Johannes-Evangelium - Am Anfang war der Logos ...) ist eine bereits theoretisch "bereinigte" Fassung dieser Ur-Vorstellung von der magischen Kraft des Wortes. Die eher positive Gegenbedeutung zum Fluch hat der Schwur. Dahinter versteckt sich wahrscheinlich die wirkende Kraft der Absicht, etwas bewirken zu wollen, was dann im Begriff, im Wort gebündelt und zum Ausdruck gebracht wird. Goethe setzt es im Faust um, indem er nicht sagen lässt: Im Anfang war das Wort - sondern - Im Anfang war die Kraft. Die als Wort, als Begriff erfahrene Absicht der geistigen Vorstellung wurde als wirksame Kraft empfunden. Wer absichtslos, wer wortlos ohne Kraft passiv ist, ist eher Opfer dieser Kraftmagie. Ein wenig geht das auch in die Vorstellung von männlich - weiblich ein. Der Mann als der Aktive, der Führende, der Gesetzgeber - auch in der Götterwelt - und die Frau als die passiv Empfangende. Selbst das Mysterium der Weitergabe des Lebens spielt sich im Dunstkreis von Wollen und Gewähren ab, Ur-Gegensätze, die auch in der Logostheologie des Heraklit auftauchen. Ich hoffe, in meinen Ausführungen sind Hinweise für eine weitere erfolgreiche Suche enthalten.

verreisterNutzer  23.10.2016, 17:31

Danke für deine Hilfe. Aber in dem von dir verwendeten Handbuch findet sich leider auch nichts Allgemeines über den "Fluch".
Ich suche explizit nach Sekundärliteratur zu "Flüchen" in der griechischen Mythenwelt... :(

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