Hallo daseinstein,
Ich finde deine Frage sehr interessant. Man sieht an den ersten Antworten, dass die meisten Menschen einfach mit dem beginnen, was Kunst für sie selbst ist.
Deine Frage richtet sich aber nach dem Missbrauch der Kunst. Und die erste Intention der Leute liegt richtig - wir müssen zunächst definieren worum es sich bei Kunst handelt.
1. Zur Definition
Wikipedia sagt dazu: "Das Wort Kunst (lateinisch ars, griechisch téchne[1]) bezeichnet im weitesten Sinne jede entwickelte Tätigkeit, die auf Wissen, Übung, Wahrnehmung, Vorstellung und Intuition gegründet ist."
Duden: "schöpferisches Gestalten aus den verschiedensten Materialien oder mit den Mitteln der Sprache, der Töne in Auseinandersetzung mit Natur und Welt."
In beiden Fällen - wie zu erwarten - denkbar weite Definitionen. Meine persönliche Meinung ist, dass Kunst nichts anderes als eine der vielen Äußerungsformen / Kommunikationsmethoden des Menschen ist. Sie ist eine besondere, weil andere Menschen sie meist als Kunst erkennen und dir damit einen erweiterten Spielraum gewähren. Bedeutet, dass man deine Aussage (in Form der Kunst) mit einem "grain of salt" wahrnimmt.
Wie ich das also beobachte kann ich einige (persönliche!) Aussagen treffen:
- Die Definition von Kunst bzw dessen Grenzen sind nicht vollständig klar
- Kunst ist eine Form der Äußerung eines Menschen
- Kunst ist eine Äußerungsform, die idR als solche wahrgenommen wird
- Wird Kunst als spezielle Äußerungsform wahrgenommen, wird sie besonders behandelt. - Man nimmt sie nicht wie eine "bloße" Aussage hin
- Kunst wird idR mit einem erhöhten Toleranzfaktor wahrgenommen - man wird als Künstler eher weniger schnell sozial sanktioniert.
An diesen Aussagen kann ich (persönlich) festmachen, dass es drei Themenblöcke gibt.
- Definition und Inhalt
- Wahrnehmung der Kunst als eine solche
- Folgen dieser Wahrnehmung
Daher nun zum nächsten Punkt.
2. Wahrnehmung der Kunst
Kunst wird idR – genauso wie Ironie, eine Anspielung, ein Witz etc. – als solche wahrgenommen. Damit ist nicht der Inhalt gemeint, sondern die Art der Kommunikation. Es spielt auch keine Rolle, ob ein Musiker intendiert Musiker zu sein – produziert er ein Lied und veröffentlicht es, so wird es als Musik wahrgenommen. Insofern muss ich die Aussage von MaryLynn87 zurückweisen. Dieses Phänomen begegnet uns häufig – so ist es etwa auch irrelevant, ob ein Unternehmer glaubt Unternehmer zu sein oder nicht. Ist er einer – wird er so behandelt. Die Begründung war jetzt meinerseits natürlich sehr positivistisch (das heisst, man begründet etwas das im Gesetz steht mit „ja weil es so im Gesetz steht“). Ich will damit nur verdeutlichen, dass Kunst nicht etwa ein absolutes Sonderkonstrukt der Gesellschaft ist, sondern dass sie viele Eigenschaften hat, die uns auch an anderen Stellen im sozialen Gefüge wohl bekannt sind. Eine philosophische Begründung dafür, warum man Verhalten anderer auf bestimmte Weise einordnet – unabhängig von deren Intention – würde hier zu weit führen.
Der eigentliche Punkt ist:
- muss jeder Kunst als solche wahrnehmen, damit sie als solche gilt? Nein.
- muss der Künstler sein Werk / Gedankengut als Kunst intendieren und damit gilt sie automatisch als solche? Nein.
Ich denke, dass man beides irgendwie in Betracht ziehen muss. Für mich ist aber Kunst, die ich anderes verstehe, als sie der Künstler intendiert hat nicht missbraucht. Für mich ist eine in Kunst versteckte Nazi Propaganda keine Kunst, nur weil ich sie zB so wahrnehmen möchte. Festhalten kann ich meiner Meinung nach aber folgendes:
- je reifer (iSv intellektuell fortgeschritten, gebildet und feinfühlig) die Künstler, umso weniger wird idR nichtkünstlerischer Inhalt in Kunst „verpackt“ werden
- je reifer die Konsumenten (iSv. wahrnehmungsfeinfühlig, gebildet, wachsam), umso weniger wird sich Kunst missbrauchen lassen – umso leichter fällt es der Gesellschaft als solcher die Differenzierung zwischen Kunst und „Nichtkunst“ vorzunehmen. [hier also ein Rückverweis zum 1. Thema – der Definition] Das gilt auch dann, wenn der "reife" Künstler bösartig handelt und die Kunst missbrauchen will!
3. Missbrauch der Kunst bzw Wahrnehmung derselben
Logischerweise kann ich nach oben Gesagtem festhalten, dass Missbrauch der Kunst in vielen Fällen vorliegen kann. Und hier beginnt auch schon wieder dasselbe Problem. Was genau ist denn Missbrauch? Ich würde es auch als Missbrauch bezeichnen, wenn jemand eine normale Aussage als „lächerliche bzw lustig gemeinte Kunst“ abtut und damit die Ernsthaftigkeit einer Aussage zu diskreditieren versucht. Dabei wird die „besondere Behandlung“ der Kunst und ihre Stellung missbraucht, um eine Diskreditierung zu erreichen. Wenn du von Missbrauch der Kunst sprichst, nehme ich an dass du folgendes meinst:
- Missbrauch der Kunst bedeutet, dass die besondere (etwa: privilegierte) Behandlung der Kunst als Form der Kommunikation ausgenutzt wird, indem zB. nichtkünstlerische Inhalte als Kunst verbreitet werden, Nichtkunst absichtlich als Kunst behandelt wird, die Verbreitungs und Vermarktungsgeschwindigkeit für nichtkünstlerische Inhalte ausgenutzt wird, und vieles mehr....
Was ich mir denke ist, dass Kunst nichts weiter als eine normale Aussage ist. Nur wir erkennen an einem "Label" / "Tag" sozusagen "ah das ist Kunst" und behandeln die Aussage dann anders. Das heisst aber nicht, dass man mit Wahrnehmung allein das Vorliegen / Nichtvorliegen von Kunst bejahen oder verneinen kann. Und umgekehrt würde ich nicht sagen, dass nur weil etwas als Kunst intendiert ist - es sich auch um Kunst handelt.
In einer idealen Welt könnten wir Kunst perfekt und exakt definieren - es liegen aber einfach zuviele subjektive Elemente vor. In der Rechtswissenschaft begegnet es mir fast täglich, dass man bestimmte Begriffe nicht einer klaren Bedeutung zuordnen kann. (sie haben keine sog. Legaldefinition). Man orientiert sich am Rest des Gesetzes, am Zweck ds., an vorangegangenen richterlichen Urteilen etc.
Am Ende des Tages ist es aber fast immer unwissenschaftlich sog "100% Aussagen" zu treffen. Darum wird dir kein halbwegs intelligenter Atheist sagen "Es gibt zu 100% keinen Gott". Er wird immer eine Akkumulation von Aussagen heranziehen, um zu verdeutlichen wie sehr es unwahrscheinlich ist, dass es einen Gott gibt.
Insgesamt kann ich dir also nicht genau sagen kann, wann Missbrauch der Kunst vorliegt. Meiner Meinung nach, kann das auch keine andere Person – wenn ja, bitte erleuchtet mich. Die „Lösung“ für solche Probleme kann nur darin liegen, besonderen Fokus auf Bildung zu legen, den Menschen beizubringen, ihre Wahrnehmung und ihre Gefühle zu trennen usw usf. Je gebildeter, feinfühliger, erwachsener etc. wir alle sind, umso mehr bringen wir diese Probleme auf eine "höhere" ungefährlichere Ebene - davon bin ich wirklich überzeugt.
Solche Diskussionen sind immer schwierig. Ein Beispiel möchte ich hier noch bringen, um die "besondere Behandlung" von Kunst zu erläutern. Ich persönlich bin ein sehr direkter Mensch. Ich nehme direkte, harte Kritik ernst und verbinde mit ihr keinen Angriff, daher auch keine negative Reaktion. Ich halte es für effizienter und ehrlicher - sehr direkt zu sein. Der Grund liegt darin, dass wir ohnehin immer zu demselben Punkt kommen. Gleichzeitig finde ich aber, dass Menschen im Umgang mit einander Respekt zeigen müssen - und zwar ehrlichen Respekt. Wenn ich genau weiß, dass jemand extrem eskaliert, wenn er äußerst direkt, oder etwa vor anderen Leuten kritisiert wird - ja dann muss ich das nicht genauso machen, nur weil ich es für richtig halte. Und das gilt vor allem dann, wenn man aufrichtig und ehrlich an einem positiven Gesamtergebnis interessiert ist. Bei Kunst hingegen finde ich, dass die Leute sie so respektieren müssen, wie ich sie eben produziere. Zum eigentlichen Beispiel:
- Einem engen Freund, von dem ich weiß, dass er mich kennt und weiß, dass ich eine direkte Person bin - dem würde ich direkte, ehrliche, harte Kritik geben. Außer ich weiß, dass er es definitiv nicht gut aufnimmt.
- Bei einer fremden Person wäre ich mit direkter, unverpackter Kritik sehr vorsichtig, weil ich weiß, dass man sich gerade von Fremden bei sehr direktem Verhalten leicht angegriffen fühlt.
- Bei Kunst würde ich nicht differenzieren. Ich würde den Inhalt einfach so gestalten wie es mir passt, was ich in meiner Musik auch mache. Das kommt mit der Erwartungshaltung, dass andere das akzeptieren.
Ich hoffe, dass die Antwort irgendwie hilfreich war :)
LG, Chris