Immanuel Kant was ist eine vollkommene Pflicht und was ist eine unvollkommene Pflicht?

1 Antwort

Bei Immanuel Kant ist eine vollkommene Pflicht eine Pflicht mit enger/strenger Verbindlichkeit und sowohl eine Tugendpflicht als auch eine Rechtspflicht, eine unvollkommene Pflicht eine Pflicht mit weiter Verbindlichkeit (es besteht in der Ausführung ein Spielraum) und allein eine Tugendpflicht.

Pflicht ist bei Immanuel Kant die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung vor dem moralischen Gesetz.

Pflicht tritt als inneres Gebot auf, gut zu handeln.

Mit Pflicht meint Immanuel Kant eine Verbindlichkeit als moralisches Gebot (Sollen), eine innere Pflicht, nicht eine von außen, von anderen geforderte bzw. vorgeschriebene Pflicht.

vollkommene und unvollkommene Pflichten

In einer Anmerkung zu einer vorläufig übernommenen geläufigen Einteilung der Pflichten äußert Kant, unter einer vollkommenen Pflicht eine zu verstehen, die keine Ausnahme zugunsten der Neigung erlaubt. Eine unvollkommene Pflicht wäre dann eine, die eine solche Ausnahme erlaubt. Zu seiner ethischen Theorie ist dies allerdings wenig passend, da ein uneingeschränkt guter Wille nach Kants Auffassung nicht von einer Neigung bestimmt ist.

Zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten besteht nach Kants Darlegung ein Unterschied in der Art der Verbindlichkeit: vollkommene Pflichten haben eine enge bzw. strenge Verbindlichkeit, unvollkommene Pflichten eine weite Verbindlichkeit (es besteht in der Ausführung ein Spielraum).

Vollkommene Pflichten sind Pflichten, die Rechtspflichten sind. Unvollkommene Pflichten sind Pflichten, die allein Tugendpflichten sind, keine Rechtspflichten. Rechtspflichten gebieten eine Handlung. Pflichten, die allein Tugendpflichten sind, gebieten eine Maxime (dem Vernunftinteresse entnommener subjektiver Grundsatz) der Handlung, nicht genau die Handlung selbst.

Der Zweck der Handlung ist in beiden Fällen zugleich Pflicht, aber bei unvollkommenen Pflichten gibt es (anders als bei vollkommenen Pflichten) einen Spielraum in der Anwendung der Maxime. Bei der Beachtung und Befolgung der Maxime ist nicht genau bestimmt, wie (auf welche Weise) und wieviel (in welchem Ausmaß) der Zweck bewirkt wird.

Eine weite (unvollkommene) Pflicht bedeutet nicht eine Erlaubnis zu einer Ausnahme von der Maxime der Handlung, die dem kategorischen Imperativ entspricht, sondern nur die Einschränkung einer Pflichtmaxime durch eine andere Pflichtmaxime.

Bei vollkommenen Pflichten ist es unmöglich, eine sie verletzende/übertretende Maxime auch nur widerspruchsfrei als Bestandteil einer allgemeinen Gesetzgebung der Vernunft zu denken. Bei unvollkommenen Pflichten ist es möglich, eine sie verletzende/übertretende Maxime widerspruchsfrei als Bestandteil einer allgemeinen Gesetzgebung der Vernunft zu denken, aber unmöglich zu wollen, diese Maxime solle allgemeines Gesetz sein, weil der Wille dabei in einen Widerspruch zu sich selbst geraten würde.

Beispiele

Die Pflicht zur Wahrhaftigkeit (nicht lügen) und die Pflicht, keine falschen Versprechen zu geben, sind vollkommene Pflichten.

Wahrhaftigkeit ist nach Kant Pflicht. Lügen (Unwahrhaftigkeit) schädigen das Vertrauen. Aussagen könnten keinen Glauben auf ihre Ehrlichkeit finden. Dies untergräbt die Möglichkeit, Verträge einzugehen, bei denen ja die ehrliche Absicht ihrer Einhaltung Voraussetzung ist. Mit der Zulässigkeit von Lügen würden allen auf Erklärungen in Verträgen beruhenden Rechten die Grundlage entzogen, was die menschliche Gesellschaft unrechtmäßig einer Rechtsgrundlage beraubt und damit der Menschheit überhaupt Schaden zufügt.

Bei einem Grundsatz, sich Geld mit dem Versprechen zu leihen, es später zurückzuzahlen, im Wissen, dies werde nicht geschehen, würde das Vertrauen in Versprechen untergraben. Der Wille gerät in einen Widerspruch mit sich selbst, weil der angestrebte Zweck (auf ein Versprechen späterer Rückzahlung ) unmöglich gemacht würde, wenn ein solcher Grundsatz allgemeines Gesetz wäre und allgemein akzeptiert und befolgt würde. An die Erfüllung von Versprechen kann ja dabei vernünftigerweise nicht geglaubt werden.

Die Pflicht zur Entwicklung eigener Fähigkeiten und die Pflicht zur Wohltätigkeit/Nächstenliebe/Hilfe und Beistand für andere, die sich in Not befinden, sind unvollkommene Pflichten.

Menschen haben nach Kants Auffassung eine Pflicht, ihre eigenen Fähigkeiten zu entwickeln. Zwar ist eine Nichtentwicklung der eigenen Fähigkeiten als allgemeine Praxis denkbar. Eine Entwicklung eigener Fähigkeiten ist aber nützlich und dem Erreichen eigener Zwecke dienlich. Daher kann die Nichtentwicklung eigener Fähigkeiten nicht als allgemeines Gesetz gewollt werden, denn das Wollen geriete in einen Widerspruch zu sich selbst.

Es gibt nach Kant eine Tugendpflicht zum Wohltun, wenn jemand einer Hilfeleistung in der Not benötigt und jemand in der Lage ist, sie zu geben. Eine Maxime der Gleichgültigkeit gegenüber fremder Not, ein Grundsatz des Unterlassens der Hilfeleistung aus (vermeintlichem) Eigennutz steht zum kategorischen Imperativ in Gegensatz.

Denkbar ist eine Befolgung einer Maxime der Gleichgültigkeit zwar. Wer aber eine Maxime aufstellt, die ein Unterlassen von Hilfe in Not erlaubt, würde auch für sich selbst Hilfe ausschließen, wenn diese Maxime allgemeines Gesetz wäre.

Jemand kann jedoch einmal selbst irgendeiner Hilfe bedürftig und auf andere angewiesen sein. Die Maxime der Gleichgültigkeit kann nicht als allgemeines Gesetz gewollt werden, es träte ein Widerspruch zu dem Wunsch auf Hilfe von anderen im eigenen Notfall auf.

Die Pflicht der allgemeinen Nächstenliebe kann durch die Pflicht der Elternliebe eingeschränkt werden. Hilfe für irgendwelche anderen muß nicht bedeuten, eigene Familienmitglieder völlig vernachlässigen zu sollen.

Bei der Entwicklung der eigenen Fähigkeiten und der Hilfe für Mitmenschen in Not gibt es Spielraum darin, auf welche Weise und in welchem Ausmaß dies geschieht.

Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785. 2. Auflage 1786). Zweiter Abschnitt. Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten. AA IV 421/BA 54 Anmerkung:

„Übrigens verstehe ich hier unter einer vollkommenen Pflicht diejenige, die keine Ausnahme zum Vorteil der Neigung verstattet, und da habe ich nicht bloß äußere, sondern auch innere vollkommene Pflichten, welches dem in Schulen angenommenen Wortgebrauch zuwider läuft, ich aber hier nicht zu verantworten gemeint bin, weil es zu meiner Absicht einerlei ist, ob man es mir einräumt, oder nicht.“

Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785. 2. Auflage 1786)). Zweiter Abschnitt. Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten. AA IV 424/BA 57:

„Man muß wollen können, daß eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde: dies ist der Kanon der moralischen Beurteilung derselben überhaupt. Einige Handlungen sind so beschaffen, daß ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als allgemeines Naturgesetz gedacht werden kann; weit gefehlt, daß man noch wollen könne, es sollte ein solches werden. Bei anderen ist zwar jene Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch unmöglich zu wollen, daß ihre Maxime zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde. Man sieht leicht: daß die erstere der strengen oder engeren (unnachlaßlichen) Pflicht, die zweite nur der weiteren (verdienstlichen) Pflicht widerstreite, und so alle Pflichten, was die Art der Verbindlichkeit (nicht das Objekt ihrer Handlung) betrifft, durch diese Beispiele in ihrer Abhängigkeit von dem einigen Prinzip vollständig aufgestellt worden.“

Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797). Zweiter Teil. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Einleitung zur Tugendlehre VII. Die ethischen Pflichten sind von weiter, dagegen die Rechtspflichten von enger Verbindlichkeit. AA VI 390:

„Dieser Satz ist eine Folge aus dem vorigen; denn wenn das Gesetz nur die Maxime der Handlungen, nicht die Handlungen selbst gebieten kann, so ists ein Zeichen, daß es der Befolgung (Observanz) einen Spielraum (latitudo) für die freie Willkür überlasse, d. i. nicht bestimmt angeben könne, wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle. – Es wird aber unter einer weiten Pflicht nicht eine Erlaubnis zu Ausnahmen von der Maxime der Handlungen, sondern nur die der Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere (z. B. die allgemeine Nächstenliebe durch die Elternliebe) verstanden, wodurch in der That das Feld für die Tugendpraxis erweitert wird. - Je weiter die Pflicht, je unvollkommener also die Verbindlichkeit des Menschen zur Handlung ist, je näher er gleichwohl die Maxime der Observanz derselben (in seiner Gesinnung) der engen Pflicht (des Rechts) bringt, desto vollkommener ist seine Tugendhandlung.

Die unvollkommenen Pflichten sind also allein Tugendpflichten. Die Erfüllung derselben ist Verdienst (meritum) = + a: ihre Übertretung aber ist nicht sofort Verschuldung (demeritum) = - a, sondern bloß moralischer Unwert = 0, außer wenn es dem Subjekt Grundsatz wäre, sich jenen Pflichten nicht zu fügen.“

hannarudolph 
Fragesteller
 14.05.2020, 20:35

Vielen Dank für die Antwort 😊 ich habe mir auch noch aufgeschrieben bei vollkommene Pflichten: Keine Ausnahmen zugunsten unsere Neigung & bei der unvollkommenen Pflichten : Ausnahme zugunsten unserer Neigung möglich...trifft dies auch zu? Bzw ist das korrekt?

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Albrecht  15.05.2020, 12:33
@hannarudolph

Das ist so nicht richtig.

Im Denken von Kant lassen Tugendpflichten Ausnahmen zugunsten anderer Tugendpflichten zu. Rechtspflichten lassen keine Ausnahme zu. Unvollkommene Pflichten lassen Ausnahmen zugunsten anderer Tugendpflichten zu und lassen in der Ausführung/Umsetzung Spielraum (in Bezug auf Handlungsart und Grad).

Ausnahmen zugunsten der Neigung enthalten Pflichten nach Kants Ethik nicht. Ein von Neigung bestimmtes Verhalten kann pflichtgemäßes Handeln sein (die äußere Handlung ist, was auch von der Pflicht geboten ist), aber kein Handeln aus Pflicht.

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