Wieso sind die meisten Christen in deutschland so unreligiös?


15.01.2022, 21:32

kenne auch einige die sagen sie sind christen, aber ihr lebensstil ist weit entfernt davon.

5 Antworten

Grüß Dich zajakolma

Religiosität ist nicht per se an das Christentum, den Islam, das Judentum oder andere Religionsgemeinschaften gebunden, die einen Gott oder Götter verehren.

Was ist Religion überhaupt bzw. Religiosität?

Das will ich näher erklären:

Es gibt eine Definition von Gustav Mensching, was Religion sei. Es gibt auch noch andere und keine hat sich absolut durchgesetzt aber diese finde ich am Besten:

„Religion ist erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen und antwortendes Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen“.

Von einem Gott ist nicht die Rede!

Da wäre aber noch zu klären, was heilig bedeutet:

Wikipedia:

Heilig bezeichnet etwas Besonderes, Verehrungswürdiges und stammt wortgeschichtlich von Heil ab, was sich abgeschwächt noch in heil („ganz“) wiederfindet. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist heilig ein im Zusammenhang mit Religion gebrauchter Begriff mit der zugedachten Bedeutung „einer Sphäre des Göttlichen, Vollkommenen oder Absoluten angehörig“, ...

Heilig muss aber nicht allein ein Gott oder irgendwelche alleinigen Götter oder gar alleinige Tiere sein, sondern kann das Leben in seiner Vielfalt, seinen Härten, seinen Widersprüchen aber auch mit seinen schönen und erhabenen Seiten selbst sein, welches als besonders verehrungswürdig erlebt und angesehen werden kann. Im Zentrum steht die schöpferische Kraft im Sein (Universum, All), durch die Werden, Sichentwickeln, Wandel und Vergehen erst beobachten lässt, um uns, in uns und durch uns und bleibt im Allerletzten ein unaufklärbares Geheimnis.

Religiosität an sich erscheint mir daher letztlich universell. Was der Mensch jedoch glaubt, das ist allein die Entscheidung des Einzelnenen. Was er sich zum Heiligen bewusst erklärt oder zumindest durch ihn unbewusst gefühlt wird, das richtet sein Leben aus und drängt dazu ins Handeln umgesetzt zu werden (Spiritualität). Dafür trägt derjenige Mensch seine volle Verantwortung. Religion an sich ist nicht Glaube sondern Gefühl, aber der Glaube füllt Religion mit Inhalt. Religiosität halte ich dem Menschen für angeboren und sein Glaube in Verbindung mit Spiritualität ist dann seine Religion und macht sie letztlich wirksam.

Du kannst auch als Atheist religiös sein ohne an einen Gott glauben zu müssen! Entscheidend ist, das Philosophie, also die Welt durch Denken zu erkennen bzw. zu erklären, Wissenschaft und eigenes Erleben eine untrennbare Einheit bilden. Die Vernunft ist die oberste Kontrollinstanz! Damit kannst Du selbst frei Deinen eigenen Glauben kreieren. Aber wenn der Glauben nicht ins Handeln umgesetzt werden kann weil er nicht wirklichkeitskompatibel ist, dann ist auch die Spiritualität und die Sinnfindung gestört und mündet ganz oder zumindest teilweise in Orientierungslosigkeit. Die Folgen davon sind psychologischer Natur und deutlich am Handeln des Menschen zu beobachten. (Umweltzerstörung, Kriege, Kommunikationsprobleme, Machtmissbrauch (Ellenbogengesellschaft, sexueller Missbrauch), usw. usw. Die Liste ist lang. Der Mensch wird zwar kein perfektes Wesen, aber er braucht tragende Orientierung die diese Zustände entscheidend mildern kann.

Wie sagte Friedrich Schiller?

"Warum ich keine Religion habe die Du mir nennst? Aus Religion!"

Das muss man erstmal schlucken und genau durchdenken!

Und damit meint er eigentlich einen Glauben, der die eigene natürliche Religiosität durch dogmatische Vorgaben pervertiert, die einen zwingen etwas Vorgegebenes zu denken, zu glauben und zu fühlen. Er möchte, das man sich wegen der Religion davon befreit. Da bekommt Religion einen völlig anderen Stellenwert als heute gemeinhin inhaltlich ständig verbreitet wird

Das gesamte Konstrukt aus Deinem eigenen Glauben und die daraus sich zwangsläufig ergebende Spiritualität ist dann Deine eigene Religion. Nur so macht sie Dich letztlich frei, weil Du sie selbst gewählt hast! (Sinnfindung, Orientierung)

Aber sie hinterfragt sich auf diesem Wege ständig selbst, um der Vernunft zu genügen. Der Hinterfragende bist Du selbst, sonst niemand anderes und das kann Dir niemand abnehmen und hast auch nur Du in seinen Folgen selbst zu verantworten!

Ich würde sagen:

Die Welt sollte unser Tempel sein in dem das Leben verehrt wird.

Damit hört die Hinterfragung des eigenen Glaubens nie auf und ist ein lebenslanger Prozess, der den Glauben ständig im Sinne von Ergänzung und Vertiefung durch Veränderung in Verbindung mit dem daraus resultierenden eigenen Handeln bedeutungsvoller und tragender macht.

Religion kann man nicht abschaffen, aber den Glauben vernünftig gestalten, damit das eigene Handeln die Wirkung entfaltet, die Dir Sinn gibt und unter Umständen auch für andere beispielgebend sein kann. Nur so kann meiner Meinung nach Religiosität eine gute Wirkung entfalten.

Herzlichen Gruß

Rüdiger

michi57319  15.01.2022, 21:45

Herzlichen Dank für diese ausführliche Antwort 👍

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michi57319  15.01.2022, 21:47
@vonGizycki

Ich wollte die Frage beantworten, das hat sich erledigt. Ich hätte es in dieser Bandbreite nicht ausdrücken können.

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Das ist deutsche tradition. Fahr nach polen oder italien, da sind die kirchen voll mit jungen leuten, familien, etc.

Heuchelei gehört zu den deutschen tugenden. Wie sonst wäre es möglich, über 6mio menschen zu ermorden aber sonntags in der kirche zur beichte und eucharestie zu gehen.

Ein weiterer grund ist die, ebenfalls stark in deutschen wurzeln verankerte, hochnäsigkeit. Den deutschen geht es so gut, dass die meisten garnicht daran denken, dass für den deutschen wohlstand andere bezahlen. Diese gedanken sind bei der breiten masse auch unerwünscht, denn es würde der gelebten verschwendungssucht einen bitteren nachgeschmack hinterlassen. So hält sich der deutsche für das schlauste wesen im universum und ein Gott, der den deutschen an seine unzulänglichkeiten erinnert, der stört nur.

Alles in allem: dekadenz.

Mayahuel  15.01.2022, 22:23
 kirchen voll mit jungen leuten, familien, etc.

Zum einen sind Italien, Polen und Irland die Spitzenreiter in Europa.

Und zum anderen bröckelt es in Italien: 29% gehen wöchentlich in die Kirche/Tempel/Moschee

The Italian National Institute of Statistics (ISTAT) found in 2015 that 29.0% of the population went to church, synagogue, mosque, temple or another house of worship on a weekly basis.

Zwar wenige Agnostiker und Atheisten, aber sie nehmen zu:

 number of atheists and agnostics is rising

https://en.wikipedia.org/wiki/Religion_in_Italy#Religious_practice

52% der Polen folgen nicht kirchlichen Regeln, sondern gehen theologisch ihren eigenen Weg:

 39% of Poles claim they are "believers following the Church's laws", while 52% answered that they are "believers in their own understanding and way"

https://en.wikipedia.org/wiki/Religion_in_Poland

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moncherie201  16.01.2022, 00:22
@Mayahuel
Gilt das auch für die anderen Länder?

nicht für alle. bei den briten ist ähnliche mentalität zu finden. im den nordländern sind zwar wenige christen zu finden, jedoch leben die wenigen tatsächlich viel mehr ihren glauben.

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kennen die bibel kaum bis garnicht

Das gilt für die meisten Christen in den letzten 2000 Jahren. Kaum jemand hatte eine Bibel, und Lesen/Schreiben konnten auch nur wenige.

die einmal die woche in die kirche gehen

Steht das in der Bibel?

Frag 10 Christen, wie sie sich wahre Christen vorstellen: und krieg 11 verschiedene Antworten.

UW1969  16.01.2022, 07:30

Vielleicht könnte man die Anzahl der Antworten dadurch etwas reduzieren, indem alle 10 Christen Gott fragen, was "er" unter Christentum versteht und sich vom Heiligen Geist führen lassen? ;)

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UW1969  16.01.2022, 08:41
@UW1969

"We love the hell out of people" (0:34). Auf so einen coolen Spruch können nur Amis kommen. :-)))

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Wieso sind die meisten Christen in deutschland so unreligiös?

Wer Christ ist, der weiß, das das nix mit dem zu tun hat, was Ungläubige mit Religion in Verbindung bringen. 🤷‍♂️

Viele deutsche Christen sind sehr säkulär und leben ähnlich wie die deutschen atheisten.

Entweder wäre dass dann eine sehr oberflächliche Beobachtung oder Du siehst nur Menschen, die ihren Hintern zwar auf eine Kirchenbank drücken - aber keine Christen sind. Ist halt so schwer zu beurteilen.

woran liegt es?

Es gibt einen guten Schwung, den "echte Christen" "Namenschristen" nennen.
Halt Menschen, die zwar einer christlichen Gruppierung angehören - aber keine sind.

kenne auch einige die sagen sie sind christen, aber ihr lebensstil ist weit entfernt davon.

Jup!
Aber vorsicht: Christen leben aus Vergebung - nicht aus Taten oder Lebensstil.
Man kann sich da von außen durchaus vertun. Du kannst halt niemanden in den Schädel blicken.

Also ich habe schon religiöse Christen kennengelernt. Allerdings ist das Christentum nicht so restriktiv und reglementiert wie der Islam.