Wie weit könnte man in der Zeit zurückgehen und immer noch deutsch verstehen?

5 Antworten

Die Geschichte der (hoch-)deutschen Sprache wird häufig in vier Abschnitte (Sprachstufen) unterteilt:

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung
Hakim, Community Manager  28.11.2019, 15:37

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Althochdeutsch ist für Laien extrem schwierig. Mittelhochdeutsch teilweise gut verständlich. Ab dem Spätmittelalter wird´s mit dem Frühneuhochdeutschen einfacher. Neuhochdeutsch sollte problemlos verständlich sein.

8
indiachinacook  28.11.2019, 19:20
@paulklaus

Ja, dem schließe ich mich an — beim Mittelhochdeutschen sehe ich zwar nur be­schränkt durch, aber mit Übersetzung geht es gut. Althochdeutsch ist selbst mit Übersetzung noch mühsam. Die von mir gebrachten Beispiele sollen das illustrie­ren, aber natürlich weiß ich nicht, wie verständlich sie uninitiierten Lesern sind

2

Ich glaube schon, dass man bis zum größten deutschsprachigen Helden-Epos, dem Nibelungen-Lied (Verfasser kurioserweise unbekannt), zurückgehen kann, also bis zum beginnenden Mittelhochdeutsch:

"uns ist in alten maren wunders vil geseit:

von heleden lobebaren, von grozer arebeit,

von freude und hochgeziten, von weinen unde klagen.

von küener recken striten muget ir nu wunder hoeren sagen."

(Quelle: mein Gehirn - die ersten vier Verse kenne ich seit meiner Schulzeit vor 60 Jahren auswendig...)

Dahika  28.11.2019, 17:50

versteh ich zwar, aber ehrlich gesagt, nicht viel besser als wenn es Holländisch wäre.

5
Von Experte earnest bestätigt

Die deutsche Sprache hat sich seit dem 18. Jahrhundert nicht viel verändert; die ak­tu­el­le Stufe der Sprachentwicklung heißt Neuhochdeutsch. Lessing hat z.B. ≈1770 ge­schrie­ben und ist heute gut verständlich. Hier ein Zitat aus Nathan der Weise:

Vor grauen Jahren lebt' ein Mann in Osten,
Der einen Ring von unschätzbarem Wert
Aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein
Opal, der hundert schöne Farben spielte,
Und hatte die geheime Kraft, vor Gott
Und Menschen angenehm zu machen, wer
In dieser Zuversicht ihn trug. Was Wunder,
Daß ihn der Mann in Osten darum nie
Vom Finger ließ; und die Verfügung traf,
Auf ewig ihn bei seinem Hause zu
Erhalten? Nämlich so. Er ließ den Ring
Von seinen Söhnen dem geliebtesten;
Und setzte fest, daß dieser wiederum
Den Ring von seinen Söhnen dem vermache,
Der ihm der liebste sei; und stets der liebste,
Ohn' Ansehn der Geburt, in Kraft allein
Des Rings, das Haupt, der Fürst des Hauses werde. –

Wenn Du weiter zurückgehst, wird es schlimmer; Du triffst dann auf eine ältere Va­ri­an­te des Deuschen, die Frühneuhochdeutsch genannt wird und die Dir zwar ei­ni­ger­maßen verständlich, aber auch ordentlich seltsam vorkommen wird. Ich illustriere das mit einem Zitat aus dem Schlaraffenland von Hans Sachs, ≈1530:

wer unnütz ist, wil nichts nit lern,
der komt im lant zu großen ern,
wan wer der faulest wirt erkant,
derselb ist könig in dem lant,
wer wüst, wild und unsinnig ist,
grob, unverstanden alle frist,
aus dem macht man im lant ein fürstn.
wer geren ficht mit leberwürstn,
aus dem ein ritter wirt gemacht;
wer *schlüchtisch ist und nichtsen acht,
dan eßen, trinken und vil schlafn,
aus dem macht man im lant ein grafn;

Da ich nicht sicher bin, wie gut Du das verstehst, gebe ich eine grobe Übersetzung. Wer unnütz ist und nichts lernen will, der bringt es in dem Land zu großen Ehren: Wenn jemand als der Faulste erkannt wird, dann ist er König in dem Land. Wer wüst, wild und unsinnig ist, grob, und sich nicht an Fristen hält, aus dem macht man im Land einen Fürsten. Wer gerne mit Leberwürsten kämpft, aus dem wird ein Ritter ge­macht. Und wer auf gar nichts achtet als auf Essen, Trinken und Schlafen, aus dem macht man im Land einen Grafen.

Das war jetzt zwar noch beschränkt verständlich, aber in der nächsten Stufe wird es noch mal viel schlimmer. Von grob 1000 bis 1400 wurde Mittelhochdeutsch ge­spro­­chen, und das verstehst Du nur sehr beschränkt. Auch dazu gebe ich einen Be­leg, der heu­te ausnahmsweise nicht aus dem Nibelungenlied stammt, sondern aus Kud­run, das ist ohnehin die erbaulichere Lektüre.

Schiere kom Ortrûn von Ormanîelant,
diu junge küniginne, mit windender hant
ze vroun Kûdrûnen. diu junge maget hêre
viel ir vür die vüeze; si klagete ir vater Ludewîgen sêre
Si sprach: 'lâ dich erbarmen, edelez vürsten kint,.
sô vîl mîner mâge, die hie erstorben sint,
und gedenke wie dir wære, do man sluoc den vater dînen.
edele küniginne, nu hân ich hiute vlorn hie den mînen.

Das wirst Du vermutlich nicht verstehen, es geht aber mit Übersetzung: Eilends kam da Ortrun, die die Hände wand. Die junge Königtochter vom Normannenland, zu Frau Kud­run. Die junge edle Maid fiel ihr zu Füßen; sie beklagte ihres Vaters Ludwigs Tod. Sie sprach „Laß Dich erbarmen, edles Fürsten Kind, so viele von den Meinen, die hier ge­stor­ben sind. Und stell Dir vor, wie es Dir zumute war, als man Deinen Vater er­schlug. Edle Königin, nun habe ich heute hier den meinen verloren.

Vor dem Mittelhochdeutschen kam das Althochdeutsche, das von den ersten schrift­­lichen Überlieferungen des Deutschen (≈600) bis etwa 1000 reicht. Es ist noch ein schö­­nes Stück fremdartiger. Ich zitiere jetzt die erste Strophe des Ludwigsliedes (in ei­­nem frän­ki­schen Dialekt des Althochdeutschen, ≈900), und es wird Dir auffal­len, daß es da­mals noch kein W gab, man schrieb stattdessen Doppel-U:

Einan kuning uueiz ih, Heizsit her Hluduig,
Ther gerno gode thionot: Ih uueiz her imos lonot.
Kind uuarth her faterlos, Thes uuarth imo sar buoz:
Holoda inan truhtin, Magaczogo uuarth her sin. 

Die Übersetzung lautet: Ich weiß einen König: Er heißt Ludwig, er dient Gott gerne. Ich weiß, er wird es ihm lohnen. Als Kind war er vaterlos, doch erhielt er sogleich Ersatz: Der Herr selbst nahm sich seiner an und wurde sein Erzieher.

Noch frühere Stufen des Deutschen sind uns leider nicht erhalten.

Woher ich das weiß:Hobby – Angelesenes Wissen über Sprach­geschich­te und Grammatik
OlliBjoern  28.11.2019, 20:54

Das Wort "schiere" ("schiere kom Ortrûn ...") gehört wahrscheinlich zu luxemburgisch "séier" (schnell) und moselfränkisch (Nordsaarland) "sier" (schnell). Meine Oma hatte dieses Wort noch benutzt - anderswo in Deutschland ist es mir noch nicht untergekommen. :)

1
indiachinacook  29.11.2019, 17:36
@OlliBjoern

Ich kenne schier nur in der Bedeutung ‘rein, pur’ (z.B. schieres Glück) und hatte mich daher über die Übersetzung ‘eilends’ (von Simrock, also glaubhaft) ge­wun­dert. Es ist immer wieder lustig, daß so gut wie jeder heutige hoch­deutsche Dialekt noch Merkmale des Mhd. bewahrt, die in der Standardsprache ausgestorben sind.

2

mit neuen Anglizismen, neuem Dudeneintrag konnte man im Mittelalter auch wenig anfangen durch Technik

Wir würden Mittelalter-Dt. nicht verstehen. Neue Übersetzung der Luther Bibel erst im letzten Jahr

Fontane: Eine stumme Predigt hält uns der Kinder Angesicht