Wie stehen Wicca, Asatru etc. zu einvernehmlichem Inzest?


14.09.2022, 18:24

Zur Info, um falschen Gedanken vorzubeugen: Es interessiert mich, da ich mich für Religionen und ihre unterschiedlichen Werte-und Normsysteme in vergleichender Weise interessiere. Es ist KEIN Wunsch von mir selber irgendeine Form von Inzest zu betreiben und dafür eine Erlaubnis zu suchen. Nur um solchen "schlauen" Antworten gleich mal vorzubeugen. Danke.

2 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

In der ägyptischen Mythologie und Religion gibt es kein Tabu gegen Inzest. Einige kosmische Vorgänge werden metaphorisch als Inzest erklärt.

Berühmt ist natürlich das Geschwisterpaar Isis und Osiris. Solche Verbindungen zwischen göttlichen Geschwistern sind auch in anderen Kulturen recht häufig und ergeben sich einfach aus der Logik der Schöpfungsmythen: wenn alle Gottheiten symbolisch als Kinder einer Ur-Schöpferin gedacht werden, dann sind sie nun einmal "Geschwister". Weil es aber keine anderen vergleichbaren Wesen gibt, können und müssen sie untereinander fruchtbare Verbindungen eingehen und weitere Generationen zu zeugen.

Dabei bewegen wir uns aber auf einer hoch symbolischen Ebene: wenn Nut mit ihrem Bruder Geb verkehrt, bis ihr Vater Schu sie endlich trennt, dann geht es nicht um ein Familiendrama, sondern um einen kosmischen Schöpfungsvorgang: Nut, der Himmel, und Geb, die Erde, werden getrennt, so dass zwischen ihnen ein licht- und lufterfüllter Raum (Schu) entsteht, in dem sich das Leben entwickeln kann. Ich finde das eine sehr schöne Metapher für die Atmosphäre, die unseren Planeten umgibt.

Unbekannter, aber eigentlich noch krasser ist Ka-Mut-ef. "Stier seiner Mutter". Das ist ein Titel für einen Schöpfergott, und ja, es wird damit impliziert, dass ein Gott seine Mutter schwängert um damit sich selbst zu zeugen.

Es geht hier um Tageszyklen und Lebenszyklen. Zum Beispiel wird der Sonnengott morgens als Kind geboren, und abends stirbt er und geht in den Leib seiner Mutter, der Himmelsgöttin ein, nur um am nächsten Morgen verjüngt wieder zu kommen.

Fruchtbarkeit und Wiedergeburt werden in weiblichen und männlichen Archetypen gedacht, das Männliche zeugt, das Weibliche gebiert, und das wird in einem ewigen Kreislauf gedacht.

Diese Form von Inzest in der Mythologie hat aber nicht unbedingt etwas mit den Regeln in der menschlichen Gesellschaft zu tun. Die Menschen konnten auch vor tausenden von Jahren schon zwischen abstrakten Symbolen im Mythos und konkreter Lebensrealität durchaus unterscheiden.

In Ägypten allerdings verschwimmen die Grenzen und es gab meiner Ansicht nach kein echtes Tabu gegen Inzest. Die Königsfamilie verkörperte göttliche Rollen, bis zum Punkt der tatsächlichen Geschwister-Ehe. (Die war nicht nur religiös motiviert, sondern natürlich auch eine Frage der Machtpolitik. Aber die Religion lieferte halt eine gute Legitimation) Dass dabei auf Dauer kein gesunder Nachwuchs heraus kommt wurde von einigen Dynastien durchaus in Kauf genommen.

Ein weiteres Problem: die altägyptische Sprache unterscheidet nicht. Die Worte Sen und Senet bedeuten "Bruder" und "Schwester", aber gleichzeitig auch: Geliebte, Partner, Cousin, Gleichgestellte und ähnliches. Wenn also in einem Text jemand seinen Ehemann als "Bruder"anspricht, dann ist vollkommen unklar, ob es sich um einen leiblichen Bruder, einen Verwandten aus der selben Generation oder lediglich um ein Kosewort für "Geliebter" handelt.

Wie sehe ich das als moderne Kemetin? - Nun, durchaus relativ locker. Ich habe keine spezifischen, religiös motivierten Einwände gegen Inzest. Meine Richtschnur ist die Ma'at: ich glaube, dass es meine eigene Verantwortung ist, ethische Fragen abzuwägen und Stellung zu beziehen. Die Götter haben mir keine Liste von heiligen Geboten gegeben, sondern sie haben mir Verstand und Gewissen verliehen.

Und nach meiner Einschätzung gilt für jede Beziehung: das Liebesleben anderer Leute geht mich nix an, solange alle Beteiligten sich frei entschieden haben (was Eltern-Kind Beziehungen sozusagen ausschließt, wegen des inhärenten Ungleichgewichts an Macht) und keine dritten Personen beeinträchtigt werden (weswegen Vollgeschwister mit Nachwuchs echt aufpassen sollten)

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung
SabrinaTue400 
Fragesteller
 15.09.2022, 18:30

Vielen herzlichen Dank für die ausführliche und sehr fundierte Antwort. Sehr interessant!

Ich finde deine persönlichen Einschätzungen auch sehr nachvollziehbar. Eltern-Kind wegen des inhärenten Ungleichgewichts an Macht. Das stimmt, würdest du auch sagen, wenn das Kind schon erwachsen und beide auf Augenhöhe sozusagen einverstanden sind? Also dass da dieses Ungleichgewicht auch noch besteht oder eher nicht mehr? Würde mich interessieren. Und Danke nochmal ;)

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Schemset  15.09.2022, 20:26
@SabrinaTue400

Naja, ich muss noch einmal betonen: das ist jetzt meine Einschätzung, und ist auf keinen Fall stellvertretend für alle Kemetischen Neuheiden.

Ich sehe halt einmal die biologische und einmal die soziale Problematik.

Die biologische Komponente, die mögliche Erbkrankheit gemeinsamer Kinder, ist eigentlich weniger entscheidend... Wenn man begründet: "ihr dürft keine Beziehung führen, weil eure Kinder vielleicht krank zur Welt kommen würden" ist das schon wirklich krass, denn mit dem selben Argument könnte man dann behinderten Menschen das Kinder kriegen verbieten und dann sind wir mitten in der Eugenik. Außerdem waren davon eh nur heterosexuelle, fruchtbare Beziehungen betroffen. Homosexuelle Paare, oder sonstige kinderlose Partnerschaften sind von dem Nachwuchs -Argument gar nicht betroffen.

Ich glaube, der soziale Gesichtspunkt ist wichtiger. Selbst eine Beziehung zwischen Halbgeschwistern, die nicht gemeinsam aufgewachsen sind, ist nicht nur ein krasses Tabu, sondern wird in Seifenopern auch gerne als Klischee hervorgekramt... Außerdem ist Inzest auch gesetzlich in den meisten Ländern verboten (das ist bei Homosexualität allerdings auch manchmal noch so)

Dieses Stigma in der Gesellschaft belastet jede Geschwisterbeziehung extrem und drängt sie in die Heimlichkeit. Aber rein ethisch gesehen finde ich es eigentlich ok, da Geschwister sich meist relativ gleichberechtigt begegnen.

Aber bei irgendeinem Eltern -Kind Paar? Selbst wenn beide erwachsen, bei klarem Verstand und finanziell unabhängig sind, dann gibt ein krasses Problem mit der persönlichen Identität. Wir definieren uns schließlich extrem über unsere Eltern und Kinder. Für die meisten Menschen ist es wichtig, zu wissen: Wer ist meine Mutter? Wer ist mein Vater? - und Eltern ist es extrem wichtig, zu sehen, dass es ihren Kindern gut geht. Und man will, dass die Kinder sich so entwickeln, wie man es gehofft hat.

Das heißt, an dieser Eltern -Kind Beziehung hängt psychologisch unheimlich viel, bis hin zu Kernaspekten der eigenen Persönlichkeit und Selbstdefinition. Das hört auch beim erwachsen werden nicht auf.

Und dann über diese Eltern-Kind Beziehung noch eine Liebesbeziehung drüber stülpen?? Ich kann mir kaum irgendein theoretisches Beispiel herleiten, wo das gut gehen kann...

Also, wie gesagt: der Inzest ist für mich kein grundsätzliches Problem im Sinne von: "das ist widernatürlich" oder "die Göttin hat es verboten". Aber ich lege halt an alle Beziehungen jeglicher Art die ethische Messlatte von freier Entscheidung, einigermaßen ausgeglichenem Machtverhältnis und dass es keinen Schaden anrichtet... Und das sehe ich bei Eltern-Kind-Inzest als kaum erfüllbar.

Aber um ehrlich zu sein, ich habe mit einer gleichberechtigten, kinderlosen Beziehung zwischen Vollgeschwistern weniger ein Problem als mit dem typisch patriarchalen Drama "Alter reicher Mann heiratet arme junge Frau, weil er sie bevormunden will"

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Die (einen) Wicca gibt es nicht und schon gar nicht den (einen) Neo-Paganismus. Sondern eine große Bandbreite mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen.

Gerald Gardner betonte die Heterosexualität in seinem Gardnerian Wicca:

Gerald Gardner, the eponymous founder of Gardnerian Wicca, particularly stressed heterosexual approaches to Wicca

Lois Bourne, Priesterin des Bricket Wood Coven, bezeichnete Gardner als homophob:

Gardner was accused of homophobia by Lois Bourne, one of the High Priestesses of the Bricket Wood coven

Alex Sanders, Gründer des Alexandrian Wicca, war bisexuell und entwickelte Rituale, in denen die sexuelle Orientierung keine Rolle spielt:

Alex Sanders, the co-founder of Gardnerian offshoot Alexandrian Wicca, came out as bisexual later in life and created new rituals in which sexual orientation was irrelevant.

https://en.wikipedia.org/wiki/Modern_pagan_views_on_LGBT_people#LGBTQ_issues_in_specific_sects,_paths,_and_traditions

Es gibt also beim Thema Homosexualität unterschiedliche Ansichten.

Meines Wissens gibt es beim Thema Inzest keine offiziellen Positionen. Das muss jeder für sich selbst entscheiden.

Verurteilt wird Sex, der ohne Konsens stattfindet (Minderjährige sind nicht konsensfähig).

 Religionen und ihre unterschiedlichen Werte-und Normsysteme in vergleichender Weise interessiere.

Da muss man sich jede einzelne Denomination ansehen. Es macht einen Unterschied, ob man den Ku-Klux-Klan zu einem Thema fragt, oder eine evangelische Landeskirche.

Wie im Neopaganismus gibt es nicht das eine Christentum.