Werthers Nähe zur Natur (Die Leiden des jungen Werther)

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Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Werther ist ein Hauptfigur eines Briefromans und als ein Vertreter der Zeit der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang gedacht. Ein schwärmerischer und empfindsamer Mensch wird dargestellt, der begeisterungsfähig und gefühlsselig ist Die starke Naturnähe und Verbundenheit mit der Natur steht auch in Beziehung mit seinem Wesen.

Goethe selbst hat ebenfalls intensiv erlebte Naturgefühle gehabt. Ein Beispiel für ein Natur- und Liebesgedicht ist das „Mailied“ (1771), das beginnt:

„Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne!
Wie lacht die Flur!

Es dringen Blüten
Aus jedem Zweig
Und tausend Stimmen
Aus dem Gesträuch

Und Freud' und Wonne
Aus jeder Brust.
O Erd', o Sonne!
O Glück, o Lust!“

Bei Goethe gibt es ein ehrfürchtiges Verhältnis zur Natur. Die Natur ist für ihn eine Möglichkeit freierer Religiosität, eine umfassende, mehr unmittelbare Wirklichkeit. Er kann das Äußere liebevoll betrachten und alle Wesen auf sich wirken lassen.

In dem Naturgefühl stecken zwei Motive:

  • kulturkritisch/gesellschaftskritisch: Die Natur ist eine auch moralisch läuternde, den Zwängen gesellschaftlicher Konventionen enthobene Gegenwelt (der Briefroman „Julie ou la Nouvelle Héloïse“ [Julie oder Die neue Heloise] von Jean-Jacques Rousseau, der Naturschilderungen und ein Eintreten für natürliches Empfunden und Echtheit des subjektiven Gefühls enthielt, ist ein starker Impuls gewesen).

  • metaphysisch/weltanschaulich: Das Weltall wird als ein lebendiger Organismus gezeichnet, als etwas Ganzheitliches. Die Naturbegeisterung versteht Natur als Inbegriff des Ursprünglichen, Elementaren, Göttlichen, nicht des vernünftig Geordneten. Die Kraft der Empfindungen wird auch gegen ein blass und trocken erscheinendes Nützlichkeitsdenken, eine als eng und starr empfundene Rationalität gesetzt.

Werther sucht kraftvolle Zeugnisse ursprünglichen, unverbildeten Daseins. In seinem Verhältnis zur Natur steckt etwas Sentimentalisches, und ein Sehnen, mit dessen Erfüllung er Schwierigkeiten hat. Dies betrifft auch die Natur mit ihrer Unverfügbarkeit. Goethe stellt in „Die Leiden des jungen Werthers“ Gefährdungen starker Empfindsamkeit und schwärmerischer Inbrunst dar.

Gero von Wilpert, Goethe-Lexikon. Stuttgart : Kröner, 1998 (Kröners Taschenausgabe ; Band 407), S. 1169:
Werther. Der schwärmerisch-empfindsame, hochgradig subjektive und sensible junge Jurist, Hauptfigur und Ich-Erzähler in → Die Leiden des jungen Werthers, hat Schwierigkeiten mit der Realität der Menschenwelt und deren Grenzen. Seine Liebe zu der mit seinem Freund Albert verlobten Lotte schlägt von anfänglichem Glückstaumel, in den er sich wirklichkeitsfremd hineinsteigert, angesichts ihrer Unmöglichkeit in Verzweiflung um und führt ihn in den Selbstmord als Schritt zur Wiedervereinigung mit der von ihm schwärmerisch verehrten Natur. In der Figur schreibt sich G. von ähnlichen Erfahrungen des Konfliktes von leidenschaftlichen Gefühlsüberschwang mit den gesellschaftlichen Normen frei.“

G. = Goethe

zu Goethe und dem Thema Natur:

Alfred Schmidt, Natur. In: Goethe- Handbuch : in 4 Bänden. Herausgegeben von Bernd Witte, Theo Buck, Hans-Dietrich Dahnke, Regine Otto. Redaktion: Carina Janßen, Petra Oberhauser und Christoph Schumacher. Band 4/2: Personen, Sachen, Begriffe : L – Z. Herausgegeben von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 1998, S. 755 – 776

S. 762: „G. zeigt, welche moralischen Konflikte eine solche Naturauffassung heraufbeschwört und wie gefährdet eine empfindsame Seele ist, die die Natur zum Rousseauschen Refugium macht, anstatt sich ihrer als Kraftquelle zu bedienen. Während G. selbst aus intensivem Naturerlebnis jedesmal gestärkt hervorgeht, ist Werther – daher seine Katastrophe – hierzu außerstande.“

„Die Freude, sich mit dem Göttlichen im Einklang zu befinden, verleiht Werthers Dasein Sinn.“

S. 763: „Aus Werthers ekstatischer Hingabe an die Natur wird im Zweiten Buch des Romans ein selbstmörderischer Drang.“

G. = Gothe

Catomaior  19.06.2013, 14:14

Liebe Fragestellerin! Eine solch tolle zeitintensive Antwort könntest Du jetzt echt mal mit einem Stern bewerten. Nur so als Tipp! :-)

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ivon111 
Fragesteller
 27.10.2013, 13:14

vielen vielen dank! deine antwort hat mir sehr weiter geholfen! Jetzt hab ich auch verstanden warum werther so naturnah ist! Eine überragende antwort! bitte mach weiter so! du bist echt eine sehr große hilfe!! :)

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Wenn du ein wenig über die Epoche des Sturm und Drang recherchierst, wirst du bezüglich deiner Frage fündig werden ! Ich sage nur: J.J. Rousseau: "Revenons a la nature !" (Lasst uns zur Natur zurückkehren !)

Der Briefroman (KEIN Drama, hanseatischgut !!) ist zwischen "Empfindsamkeit" und "S + D" anzusiedeln.

(Die Epoche der Empfindsamkeit hat ihren NAMEN-Ursprung übrigens von Lessing, der das englische Werk "Sentimental Journey" entsprechend übersetzte.)

paulklaus

Der literarische Höhepunkt des "Zeitalters der Empfindsamkeit" ist in Deutschland Goethes Roman "Die Leiden des jungen Werther. Die Empfindsamkeit richtet sich gegen eine vernunftorientierte Lebensweise. Und hier ist auch die starke Verbindung zur Natur gegeben. Schon allein das Gedicht "An den Mond" verdeutlicht dir das.

mein lieblinsdrama...werther ist glaube ich in goethes augen "der mensch", also etwas, was es heute gar nicht mehr gibt...vielleicht ist das ja goethes philosophischer beitrag zur anthropologie...vielleicht sollte man mehr auf die kant'sche frage "was ist der mensch" eingehen? ich finde die frage gut und würde gerne den aufsatz lesen

Catomaior  19.01.2013, 20:23

nur dass das Werk kein Drama ist... :-P

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