Fossilien sagen nichts über die Fortpflanzung?

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Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Moin,

es gibt in der Biologie ein Artkonzept, das (vereinfacht) lautet:
Zwei Individuen gehören dann zu einer Art, wenn sie fruchtbare Nachkommen miteinander zeugen können.
(Biopopulationistisches oder - verkürzt - biologisches Artkonzept)

Das bedeutet, dass sich die beiden Individuen nicht nur miteinander paaren und dabei lebensfähige Nachkommen hervorbringen müssen, sondern diese Nachkommen müssen dann auch noch selbst Nachkommen haben können (fruchtbar sein). Wenn das (wenigstens theoretisch) gegeben ist, gehören Individuen zu einer Art.

Da dieses Artkonzept also auf der Fortpflanzung beruht, kann man das an Fossilien üblicherweise nicht überprüfen, weil das Versteinerungen von Knochen, Fußspuren, Hohlräumen oder, oder oder... sind.

Und wenn jetzt Forscherinnen oder Forscher solche Versteinerungen von sagen wir Skeletten oder Skelettteilen finden, dann wollen sie natürlich auch wissen, ob es sich bei den Funden um Teile von Individuen einer Art oder von verschiedenen Arten handelt.

Da sie aber die Überreste der Verstorbenen nicht paaren können, um ihre Fortpflanzungsmöglichkeiten zu testen, bleibt nur ein Vergleich mit anderen Funden oder anderen (noch lebenden) Organismen, um Erkenntnisse über Artzugehörigkeit oder Verhaltensweisen zu gewinnen.

Das ist natürlich immer etwas spekulativ, aber viele dieser Annahmen dürften dennoch richtig sein oder zumindest ziemlich wahrscheinlich.

Und für solche Vergleiche nutzt man dann zum Beispiel Gehirnvolumina, die Stärke von Überaugenwulsten, erkennbare Knochennähte (zur Abschätzung von Lebensaltern), Beckenbreiten (für die Einschätzung des Geschlechts) usw.

Alles klar?

LG von der Waterkant


Fragagen 
Fragesteller
 06.02.2023, 13:31

Wow, ich danke dir für diese detailreiche Antwort. Ist wirklich sehr hilfreich für meine Präsentation! Danke!

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Es gibt in der Biologie verschiedene Definitionen darüber, was eine Art eigentlich ist (Artkonzepte). Das bekannteste und sicher bis heute gebräuchlichste ist das biologische Artkonzept. Es geht auf den Evolutionsbiologen Ernst Mayr zurück und definiert eine Art als Fortpflanzungsgemeinschaft. Alle Individuen einer Gruppe, die sich untereinander uneingeschränkt erfolgreich fortpflanzen können, bilden demnach eine gemeinsame Art. Dabei bedeutet "uneingeschränkt", dass jedes Individuum sich mit jedem beliebigen anderen fortpflanzen kann (eine Einschränkung ist natürlich, dass es bei getrenntgeschlechtlichen Arten je ein Männchen und ein Weibchen sein müssen). Und "erfolgreich" meint, dass die entstehenden Nachkommen wiederum uneingeschränkt fertil sein müssen.

Ein Beispiel: Ein Tiger kann mit jedem anderen Tiger gekreuzt werden. Das gleiche gilt für Löwen. Eine Kreuzung zwischen einem Löwen und einem Tiger ist zwar (in menschlicher Obhut) möglich, aber die Nachkommen, sog. Liger (wenn der Vater ein Löwe ist) und Tiglons (wenn der Vater ein Tiger ist), sind unfruchtbar. Tiger und Löwen gehören deshalb getrennten Arten an. Ein anderes Beispiel sind Mulis und Maulesel, deren Elternarten Pferd und Esel ebenfalls getrennte Arten sind.

Das biologische Artkonzept ist jedoch nicht universell gültig. Auf Arten, die sich ungeschlechtlich fortpflanzen, z. B. auf Bakterien, ist es z. B. gar nicht anwendbar. Außerdem ist es schwer zu testen. Ob zwei Populationen zu einer Art gehören oder zu verschiedenen Arten, lässt sich nur durch aufwändige Kreuzungsexperimente feststellen. Über viele Tierarten wissen wir aber schlicht nicht genug, um sie züchten zu können.

Auch bei ausgestorbenen Arten versagt das biologische Artkonzept. Wie will man feststellen, ob zwei ausgestorbene Individuen sich miteinander fortpflanzen konnten oder nicht? Schließlich ist alles, was von ihnen übrig blieb, ein Haufen Knochen und die kann man nicht verpaaren.

In diesen Fällen muss man daher andere Artkonzepte anwenden. Eines davon ist das morphologische Artkonzept. Es definiert eine Art als Individuengemeinschaft mit ähnlichem Aussehen. Alle Tiger haben Streifen, Löwen haben eine Mähne (zumindest die Männchen) und eine Schwanzquaste usw. Für Paläontologen ist das morphologische Artkonzept oft das einzige, das sie anwenden können. Sie suchen dann in all den Fossilien nach Merkmalen, die gemeinsam sind oder eben auch verschieden und können so beurteilen, was zu einer Art gehört und was nicht. Paläontologen müssen außerdem beachten, dass eine Art im Lauf der Zeit ihr Aussehen verändern kann. In der Paläontologie wird das Konzept deshalb um den Faktor der Zeit erweitert. Als Chronospezies bezeichnet man eine Individuengemeinschaft mit ähnlichem Aussehen zu einem bestimmten Zeitpunkt. Beispielsweise werden die rund 2.8 Mio. Jahre alten Funde von Frühmenschen der Chronospezies Homo habilis zugerechnet, jüngere Funde heißen Homo erectus und noch jüngere Homo sapiens.

Auch das morphologische Artkonzept hat so seine Tücken und Schwierigkeiten. Erstens sehen sich die Individuen einer Art zwar ähnlich, jedoch sehen sie nie exakt gleich aus. Es gibt also eine natürliche Variationsbreite der Merkmale. Ob die Unterschiede zweier Individuen groß genug sind, um sie als eigenständige Arten aufzufassen oder man die Unterschiede als noch innerhalb der innerartlichen Variationsbreite betrachtet, hängt daher immer auch vom subjektiven Eindruck des jeweiligen Taxonomen (das sind die Biologen, die sich mit der Beschreibung und Einordnung der Arten im natürlichen Verwandtschaftssystem beschäftigen) ab. Zweitens kann eine Art aufgrund der regional recht verschiedenen Gegebenheiten in verschiedenen Gebieten unterschiedlich aussehen. Möglicherweise werden die verschiedenen Populationen dann als eigenständige Arten beschrieben, obwohl sie uneingeschränkt fruchtbar sind und somit nach dem biologischen Artkonzept eigentlich zu einer Art gehören. Ein besonders krasses Beispiel ist der Edelpapagei (Eclectus roratus). Weibchen und Männchen sehen so verschieden aus, dass sie ursprünglich als zwei verschiedene Arten beschrieben wurden. Erst später erkannte man, dass es sich um Tiere derselben Art handelt. Ein anderes Beispiel sind die Raben- und die Nebelkrähe, die bis heute manchmal als getrennte Arten geführt werden, tatsächlich aber nicht einmal gut voneinander abgrenzbare Unterarten, sondern einfach nur verschiedene Farbschläge einer Art sind. Umgekehrt können sich zwei (biologische) Arten so ähnlich sehen, dass sie morphologisch nicht voneinander unterschieden werden können. Solche Spezies werden kryptische Arten genannt. Die Stumpfkrokodile (Osteolaemus) aus Zentralafrika etwa wurden bislang als monotypische (nur eine Art unfassende) Gattung mit der Art Osteolaemus tetraspis aufgefasst. Beim Aufbau eines Europäischen Zuchtbuchs für die bedrohte Art fiel auf, dass manche der zusammengestellten Paare gut züchteten, während andere überhaupt nicht zur Fortpflanzung kommen wollten - obwohl die Zuchtbedingungen sich nicht nennenswert unterschieden. Erst genetische Analysen zeigten, dass die Stumpfkrokodile einen Artkomplex aus mindestens drei verschiedenen Arten darstellen. Neben der Nominatform ist das das Kongo-Stumpfkrokodil (O. osborni) und eine dritte, noch unbeschriebene Art. Bei den nicht erfolgreichen Zuchtpaaren hatte es sich um Individuen gehandelt, die unterschiedlichen Arten angehören. Ähnlich ist es auch im Fall der Tigerkatze (Leopardus tigrinus), von der die südliche Population als eigene Art Leipardus guttulus abgetrennt werden musste. Auch hierzulande gibt es Beispiele für kryptische Arten: die Östliche (Lacerta viridis) und Westliche Smaragdeidechse (Lacerta bilineata) sind morphologisch nicht unterscheidbar. Besonders heikel wird es am Kaiserstuhl, wo natürlicherweise die Westliche Smaragdeidechse vorkommt und die Östliche Smaragdeidechse irgendwann einmal vom Menschen ausgesetzt wurde, heute also beide Arten nebeneinander vorkommen.

In jüngerer Zeit wird das phylogenetische Artkonzept zur Klassifikation der Arten immer häufiger genutzt, v. a. seit die Methoden der Molekularbiologie (z. B. Vergleich von DNA-Sequenzen) immer einfacher, schneller und günstiger durchzuführen sind. Als Phylospezies bezeichnet man eine Individuengemeinschaft mit einer gemeinsamen Abstammungsgeschichte. Um die gemeinsame Abstammungslinie zu belegen, sucht man nach für diese phylogenetische Linie (und nur für diese) gemeinsame abgeleitete Merkmale, sog. (Syn)apomorphien. Apomorphien können morphologische Merkmale sein oder aber eben auch genetische Merkmale. Das phylogenetische Artkonzept kann dank der Paläogenetik heute auch auf fossile Arten angewendet werden, solange aus dem Fossilienmaterial Bruchstücke der aDNA extrahiert werden können. Eine Forschungsarbeit von Michael Hofreiters Arbeitsgruppe an der Universität Rostock zeigte beispielsweise, dass die spätpleistozänen Formen der Säbelzahnkatze Homotherium, die ursprünglich anhand morphologischer Unterschiede als verschiedene Arten beschrieben wurden, zu einer Art gehören.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Biologiestudium, Universität Leipzig

Noch ein Beispiel: Wir wissen, dass Tiger, Löwen, Leoparden und Jaguare nur beschränkt miteinander kreuzbar sind. Es gibt zwar Nachkommen, aber die sind nicht oder nur eingeschränkt fruchtbar. Die Skelette von Tigern und Löwen sind sich aber so ähnlich, dass man sie kaum auseinander halten kann. Wären Tiger und Löwen ausgestorben, wüsste man einfach nicht, ob sie fruchtbar kreuzbar wären.

Damit ist wohl gemeint, dass keine Weichteile und inneren Organe fossilisiert werden. Man kann also nur anhand der Knochenform und -größe ableiten, ob das Exemplar männlich oder weiblich war.