Warum ist Faust ein Prototyp des modernen Menschen?

3 Antworten

Faust gleicht dem modernen Wissenschaftler, der ständig nach neuen Erkenntnissen strebt und der Natur immer weitere Geheimnisse entlocken möchte (Z.B. „Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält.“ Oder: Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust,.... die andre hebt gewaltsam sich vom Dunst zu den Gefilden hoher Ahnen.“ Auch will er „aus diesem Meer des Irrtums auftauchen“; alles Zitate am Anfang von Faust 1 . Zu Fausts Zeit im Mittelalter war ein derartiges Streben nach immer neuen Erkenntnissen verboten; man durfte nur innerhalb des von der Kirche und den Kirchenlehrern (Thomas von Aquin) vorgegebenen Rahmens forschen. - Dann ist Faust auch in religiösen Fragen ein moderner Mensch. Zu seiner Zeit musste man die kirchlich-christliche Lehre rückhaltlos anerkennen. Wie aber redet Faust gegenüber Gretchen (im berühmten Religionsgespräch)? „Nenns Glück! Herz! Liebe! Gott! Ich habe keinen Namen dafür. Gefühl ist alles, Name ist Schall und Rauch...“ Gretchen: „Du hast kein Christentum.“ Modern ist heute, nach seiner Façon selig zu zu werden, sei es, dass man Atheist oder Christ oder Buddhist ist. Faust bekennt sich hier zu einer Art Gefühlsreligion. Zu seiner Zeit war das gefährlich. Später, am Ende seines Lebens (5. Akt von Faust 2) „outet“ sich Faust sogar als Agnostiker, ja – könnte man sagen – als Atheist im Feuerbachschen Sinne: „Nach drüben (zur Ewigkeit) ist die Aussicht uns verrannt: Tor, werdorthin die Augen blinzelnd richtet, sich über Wolken seinesgleichen dichtet! Er stehe fest und sehe hier sich um: Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm! Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen? Was er erkennt, lässt sich ergreifen..“ - Dann ist Faust am Ende seiner Tage zu einem modernen kapitalistischen Unternehmer geworden, der sein Geld in gewaltige Unternehmen investiert, um den Völkern Land und Freiheit zu sichern, Land, das er dem Meer und den Sümpfen abtrotzen möchte: „“Eröffn ich Räume vielen Millionen. Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen. Grün das Gefilde, fruchtbar! Mensch und Herde sogleich behaglich auf der neuesten Erde...Im Innern hier ein paradiesisch Land: Da rase draußen Flut bis auf zum Rand!... Und so verbringt, umrungen von Gefahr, hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr. Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, auf freiem Grund mit freiem Volke stehn...“ (s. 5. Akt von Faust 2). Diese Beschwörung des freien Menschen ist auch etwas ganz und gar Modernes; insoweit war Faust der mittelalterlichen eingeengten Mentalität der Menschen damals weit voraus.


AnnaHighFive 
Fragesteller
 22.04.2015, 16:44

Vielen Dank, du hast mir wirklich sehr weitergeholfen! Das haben wir alles nicht besprochen... und ich bin jetzt echt erleichtert. Ich hätte sonst keine Antwort gewusst.

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Wäre schon verwunderlich, wenn Faust der Prototyp der heutigen "Generation Y" oder noch besser Z wäre. Faust, der digital native? ;)

AnnaHighFive 
Fragesteller
 18.04.2015, 17:55

Wie meinst du das?

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Zunächst einmal musst du zweierlei bedenken:

1. Goethes "Faust" basiert auf einem mittelalterlichen Volksmärchen.

2. Goethe brauchte vom ersten bis zum letzten Buchstaben (einschließlich "Faust II") 60 - SECHZIG - Jahre (nicht ganz unwichtig).

Das Drama wie auch die Figur des Faust weisen zwar VIELE Elemente der Zeitlosigkeit, mithin auch der Aktualität auf (ich denke nur an die herrrrliche Schüler-Szene !!); ob Faust jedoch der Prototyp eines modernen Menschen ist, wage ich zu bezweifeln !!

Nach meiner zwangsläufig subjektiven Ansicht gibt es heute nicht mehr diesen Typus des verzweifelt Suchenden, des an der Welt und sich selbst Zerbrechenden !

In unserer Welt, in der wir durch Politik und Medien gesteuert verblöden sollen, finden sich nur RELATIV wenige Menschen, die forschen, "was die Welt im Innersten zusammen hält", die auf der Suche nach sich selbst sind.

"Wir" sind viel zu abgestumpft, um uns - generell - über unsere Identität Gedanken zu machen...

Lies zehn Interpretationen zu deiner Frage, und du wirst zehn unterschiedliche Antworten erhalten !!

Ein Letztes: "Faust" ist keineswegs nur ein Drama der Klassik !! Bedenke die diversen Elemente des Sturm & Drang !!!

pk

KS1987  19.04.2015, 20:30

Ich stimme dir in weiten Teilen zu. Aber eine Anmerkung habe ich: Dieses "wir", diese allgemeine, breite Masse, von der wir alle glauben, dass es sie gibt und von der wir uns alle abgrenzen wollen - gibt es die so wie wir glauben? Oder ist das auch wieder lediglich von den Medien vorgetäuscht? Wird uns das nur suggeriert, um uns dann an anderer Stelle wieder bei unserem Stolz zu packen? 

Ich bezweifle nicht, dass es viele Menschen gibt, die nicht "über ihren Tellerrand" blicken, die träge Meinungen folgen, die ihnen vorgesagt werden. Aber es gibt so unendlich viele, die das nicht tun. Egal mit wem man spricht, jeder schimpft oder lächelt über "die breite Masse", niemand guckt RTL 2 (und wenn dann nur, um sich darüber zu amüsieren, wie doof doch die besagte breite Masse ist), keiner, der nicht von Zukunftsängsten oder Problemen mit der eigenen Identität geplagt wäre.  

Und gerade die Suche nach der eigenen Identität ist auch bei der heutigen Jugend ein großes Thema. Bedingt durch Vereinsaktivitäten habe ich bei Facebook einige junge Leute in meiner Freundesliste. Immer wieder posten sie Zitate und Songtexte. Das mag auf den ersten Blick nicht sehr geistreich sein, aber es zeugt doch davon, dass sich da jemand Gedanken macht. Vieles, was gepostet wird, ist traurig und deutet auf Zukunftsängste, Kritik an der Gesellschaft, usw. hin. 

Wenn man sich dann noch anschaut, wie viele junge Leute heutzutage in psychologischer Betreuung sind, Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten, Drogenkonsum, usw. aufweisen, dann sieht man doch, dass der Trend ganz gewaltig in Richtung eines selbstzweifelnden, mit der Welt nicht zufriedenen, mehr wollenden Faust gehen. 

Aber das nur am Rande. Wäre vielleicht eher ein Thema für Soziologie oder Philosophie als für Deutsch ;)

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AnnaHighFive 
Fragesteller
 22.04.2015, 16:45

Dankesehr!!

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