Diese "Zurückhaltung" spiegelt Ohnmacht und Zerrissenheit der EU, denn die EU ist zwar ökonomisch stark, aber militärisch ein Zwerg. Und mit Sonntagsreden oder dem Angebot von Vermittlungen und friedlichen Verhandlungen wird man bei Erdogan keinen Erfolg haben.
Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges beherrschte die Türkei über Jahrhunderte ein riesiges Kolonialreich, das sich von Nordafrika über den gesamten Nahen Osten bis Fernasien erstreckte. Nach den ursprünglichen Plänen der Siegermächte wäre die Türkei fast gänzlich von der Landkarte verschwunden. Atatürk "rettete" immerhin die Türkei in den heutigen Grenzen.
Es ist kein Geheimnis mehr, dass Erdogan eine möglichst weit gehende Wiederherstellung des Osmanischen Reiches anstrebt. Die eigentliche Frage war und ist, wie weit zu gehen er bereit ist, militärische Eskalationen zu riskieren. Es ist in diesem Fall wirklich nicht Frau Merkel, sondern der türkische Präsident, dem Menschenleben dabei absolut gleichgültig sind. Sein völkerrechtswidriger Angriff hat innerhalb einer Woche bereits über hunderttausend Menschen zu Flüchtlingen gemacht. Ganz offen kündigt er eine Umsiedlungsaktion an, und damit die Vertreibung der Kurden aus ihrem Gebiet auf syrischem Territorium. Schon ist die syrische Armee auf dem Weg ihm entgegen zu treten, womit neben dem Iran auch Russland - als bisheriger Verbündeter Syriens - involviert sind.
Erwähnt man noch die Bombardierung von US-Truppen durch türkische Artillerie, die Berichte von ersten erfolgreichen Fluchtversuchen von IS-Häftlingen, Erdogans Rede, in der er die EU verhöhnt sowie unverhohlen Gebietsansprüche in Griechenland erhebt, mag das eine etwaige Vorstellung davon geben, was für ein riesiges Pulverfass sich da innerhalb nur einer Woche zu entzünden droht.
Erdogan hat den Syrien-Krieg erneut entfacht, und wird kaum davor zurück schrecken, sich ehemaliger IS-Kämpfer zu bedienen. Sein aggressiver und brandgefährlicher Kriegskurs hat offensichtlich auch Rückhalt in der türkischen Bevölkerung.
Entscheidend dafür wie es weiter geht, wird - neben dem militärischen Verlauf - ist die große Frage, wie die Großmächte USA und Russland sich positionieren, und ob sie bereit sind, gemeinsam der Türkei in den Arm zu fallen. Die EU spielt dabei bisher nur eine Nebenrolle, selbst im Falle einer erneuten Flüchtlingswelle.