Was ist der Unterschied zwischen der austeilenden Gerechtigkeit und der ausgleichenden?

2 Antworten

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Anscheinend geht es um die Gerechtigkeitsheorie über Verteilung und Ausgleichen von Aristoteles, Nikomachische Ethik 5, 6 – 8.

Bei der Gerechtigkeit (δικαιοσύνη [dikaiosyne]) als besonderer Tugend/Vortrefflichkeit (ἀρετή [arete]) des Charakters (im Unterscheidung zur Gerechtigkeit als allgemeiner Tugend/Vortrefflichkeit des Charakters, die als Sammelbegriff alles an gutem Verhalten in Bezug auf andere Personen enthält) ist das Gerechte (τὸ δίκαιον [to dikaion]) das Gleiche (τὸ ἴσον [to ison]). Das aufgestellte Prinzip der Gleichheit bedeutet das proportional Gleiche. Das Gerechte wird in verschiedenen Handlungsbereichen eingehender untersucht.

In der von Aristoteles dargelegten Gerechtigkeitsheorie gibt es dabei eine grundlegende Zweiteilung bei der Anwendung des Prinzips der proportionalen Gleichheit. Bei der einen Art (die austeilende Gerechtigkeit der Fragestellung) kommt es auf die Beschaffenheit der Personen an, eine Würdigkeit aufgrund von Eigenschaften bzw. Leistungen, und das proportional Gleiche bedeutet Gleichheit der ausgeteilten Güter im Verhältnis zur Würdigkeit der jeweiligen Personen. Was die Personen dabei bekommen, kann im Ergebnis der Menge/der Anzahl/dem Ausmaß nach ungleich sein. Bei der anderen Art (die ausgleichende Gerechtigkeit der Fragestellung) kommt es nicht auf die Beschaffenheit der Personen an, sondern nur auf die Handlung (Gleichbehandlung ohne Ansehen der Person). Bei Verträgen/Vereinbarungen über einen Austausch sollen Personen wirklich soviel geben und bekommen, wie abgemacht worden ist und bei Erleidung von Schaden in unfreiwilligen/unwillentlichen Interaktionen/Transaktionen soll die Geschädigten zum Ausgleich von denen, die geschädigt haben, bekommen, was im Wert genau gleich viel ist. Ob jemand ein tüchtiger oder anständiger Mensch ist oder nicht, ist dafür nicht von Belang.

Die Frage ist, ob Unrecht getan und Unrecht erlitten, Schaden zugefügt und Schaden erlitten worden ist, und wieviel der Schaden dem Wert nach beträgt.

Aristoteles bezeichnet das Gerechte beim Austeilen (mit Würdigkeit als Maßstab) als ein Gleiches nach geometrischer Proportion (eine Gleichheit dem Verhältnis nach), das Gerechte beim Ausgleichen als ein Gleiches nach arithmetischer Proportion (eine zahlenmäßige Gleichheit).

Unterschied in Zusammenfassung

Die austeilende Gerechtigkeit ist auf das Gerechte beim Verteilen ausgerichtet. Das Gerechte ist eine Gleichheit nach geometrischer Proportion mit Würdigkeit als Maßstab. Was die jeweiligen Personen Ergebnis der Menge/der Anzahl/dem Ausmaß bekommen sollen, kann ungleich sein.

Die ausgleichende Gerechtigkeit ist auf das Gerechte beim Ausgleichen ausgerichtet. Das Gerechte ist eine Gleichheit nach arithmetischer Proportion. Was Geschädigte bekommen sollen, ist genau gleich viel, wie der zugefügte Schaden dem Wert nach beträgt (Gleichbehandlung ohne Ansehen der Person).

Erläuterungen

Das Gerechte beim Verteilen (τὸ διανεμητικὸν δίκαιον) gibt es nach der Darstellung, die Aristoteles bietet, bei der Verteilung von Ehrungen, Ämtern, Besitztümer, Geld und anderen teilbaren Dingen, bei denen es möglich ist, Gleiches und Ungleiches zu haben, an die Mitglieder einer politischen Gemeinschaft. Die Zuteilung soll nach/gemäß Würdigkeit (κατ᾽ ἀξίαν) geschehen. Das Wort ἀξία ist in diesem Zusammenhang schwierig zu übersetzen. Es kann z. B. „Wert“, „Würde“, „Würdigkeit“ oder „Verdienst“ bedeuten. Es geht um einen in der Person liegenden Anspruch, z. B. aufgrund von Fähigkeiten, Leistungen, Verdiensten. Wenn es um soziale Hilfe geht, kann grundsätzlich auch an Bedürftigkeit gedacht werden. ἀξία meint einen sachlich relevanten Maßstab. Worin dieser bei einzelnen Zuteilungen besteht und wie das Ergebnis ausfällt, ist Sache der Klugheit/praktischenVernunft.

Das Gerechte beim Ausgleichen ist unterteilt in freiwilligen/willentlichen Tausch (z. B. Verkauf, Kauf, Gelddarlehen gegen Zinsen, Bürgschaft, Leihen, Pfandhinterlegung, Vermietung), und unfreiwillige/unwillentliche Interaktionen/Transaktionen (z. B. Diebstahl, Raub, Tötung, freiheitsberaubende Gefangennahme, Mißhandlung, Verstümmelung, üble Nachrede). Aristoteles nennt es „das berichtigende/gerademachende/wiederherstellende/regelnde/ausgleichende Gerechte“ (τὸ διορθωτικόν δίκαιον und τὸ ἐπανορθωτικὸν δίκαιον).

Der Unterschied zwischen dem Gerechten beim Austeilen und dem Gerechten beim Ausgleichen liegt nicht in Rechtbeziehungen zwischen Ungleichen und Rechtbeziehungen zwischen Gleichgeordneten. Ein Unterschied liegt darin, ob bestimmte Ungleichheiten für die Bestimmung des Gerechten von Belang sind oder nicht.

Google hat sehr wohl von ,,austeilender Gerechtigkeit" gehört. 

https://de.wikipedia.org/wiki/Ausgleichende_Gerechtigkeit

Die ausgleichende Gerechtigkeit ist ein Unterbegriff der https://de.wikipedia.org/wiki/Gerechtigkeit">Gerechtigkeit und beschreibt gemäß der https://de.wikipedia.org/wiki/Nikomachische\_Ethik">Nikomachischen Ethik von https://de.wikipedia.org/wiki/Aristoteles">Aristoteles Rechtsbeziehungen zwischen Gleichgeordneten.

Im Gegensatz hierzu steht die „austeilende Gerechtigkeit“, welche die Rechtsbeziehungen zwischen Ungleichen (zum Beispiel dem Staat und den Bürgern) beschreibt.


Albrecht  10.03.2017, 07:54

Die Darstellung bei Wikipedia mit Rechtsbeziehungen zwischen Gleichgeordneten und Rechtsbeziehungen zwischen Ungleichen ist falsch (zur Erläuterung vgl. meine Antwort).

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ulrich1919  10.03.2017, 09:25
@Albrecht

Danke für die Präzisierung. Ich hoffe, dass dem Fragesteller damit geholfen sei und dass er Griechisch lesen kann.

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