Was ist der Unterschied zwischen dem Biologischen Artbegriff (nach Ernst Mayr) und dem Phylogenitischem Artbegriff? MIT BEISSPIEL BITTE!?

2 Antworten

Hallo lu100,

erst mal full stop und don't panic: so schwer ist das nicht. Atme ruhig durch... und dann erst weiterlesen.

=D

Fangen wir mit dem "biologischen Artbegriff" an.

Am einfachsten merkst Du Dir, dass der biologische Artbegriff zentral an der Fortpflanzungsfähigkeit hängt: Eine Art ist nach dieser Definition ist eine Gruppe von Tieren oder Tierpopulationen, die sich miteinander fortpflanzen und dabei vollkommen normal fruchtbare Nachkommen hervorbringen.

Was zeichnet diese Definition des Artbegriffes aus?

  • Der so definierte Artbegriff heißt "biologischer" Artbegriff, weil er als Abgrenzungskriterium ein Kriterium verwendet, das auf Lebewesen beschränkt ist: Wenn man das Aussehen der Tiere als Kriterium heranziehen würde (was übrigens der historisch älteste Versuch der Artdefinition ist, der sogenannte "morphologische Artbegriff"), ware das nicht so: Auch Quecksilber und ein Stein schauen unterschiedlich aus.
  • Ebenfalls anders als der Versuch, einfach nach dem Aussehen zu unterscheiden, ist dieser biologische Artbegriff viel weniger abhängig von der subjektiven Einschätzung. Fortpflanzungsfähigkeit ist ein objektives Kriterium.
  • Der biologische Artbegriff beinhaltet als Abgrenzungs- oder Isolationsmechanismus, dass in den Individuen selbst etwas vorliegt, was verhindert, dass sie sich mit Individuen anderer Arten fruchtbar verpaaren. Selbst dann, wenn sie in der Natur einen gemeinsamen Lebensraum bewohnen.

Esel und Pferd gehören nach dieser Definition zum Beispiel zu verschiedenen Spezies, weil sie keine fruchtbaren Nachkommen haben.

Schauen wir jetzt auf den "Phylogenetischen Artbegriff":

Phylogenetik ist das Fremdwort für die Wissenschaft, die sich mit der Erstellung der Stammbäume der Lebewesen beschäftigt. Wenn man das weiß, wird sofort klar, dass der "phylogenetische Artbegriff" etwas mit den Stammbäumen zu tun haben MUSS. Genauer gesagt, macht er ohne die Einordnung der Lebewesen in Stammbäume gar keinen Sinn:

Der Artbegriff wird hier über die Abstammungsgemeinschaft definiert: Die Art beginnt mit der Artbildung, also ihrem ersten Nachweis im Stammbaum, und endet entweder mit ihrem Aussterben und/oder ihrer Aufspaltung in zwei oder mehr spätere Arten.

Dieser Begriff ist also so etwas wie eine zeitliche Einordnung zwischen der Entstehung einer Art und derem Verschwinden.

Unterschied ungefähr klar?

Vielleicht hilft es Dir bei diesem Thema auch, wenn Du mal ein paar Minuten darüber nachdenkst, WARUM es in der Biologie verschiedene Definitionen des Artbegriffes gibt. Das ist ja das erste Verwirrende an der Sache, oder?

Das wird aber recht schnell klar, wenn man bedenkt, wie unterschiedlich die Lebewesen sind, die wir da in "Schubladen" zu ordnen versuchen. Du wirst schnell feststellen, dass jede dieser Definitionen (ergänzend zu der bereits im Text erwähnten "morphologischen" nach dem Aussehen der Tiere) irgendwo an ihre Grenzen stößt.

Wenn Du zum Beispiel versuchst, die Arten allein am Aussehen festzumachen, kommst Du in Schwierigkeiten, wenn etwa das genaue Aussehen von Pflanzen stark mit Temperaturen, Feuchtigkeit und Gegend variiert: Wie stark dürfen sich dann zwei Pflanzen unterscheiden, um bereits zu verschiedenen Arten zu gehören? Es ist sehr schwer, hier objektive Kriterien festzulegen.

Mit dem biologischen Artbegriff über die Fortpflanzungsfähigkeit stößt Du an seine Grenzen, wenn es um Arten geht, die sich nicht mehrgeschlechtlich fortpflanzen. Oder auch zum Teil bei Fossilien, bei denen man nicht mehr sicher feststellen kann, ob eine Paarung noch erfolgt ist oder erfolgen konnte.

Und natürlich hat auch der phylogenetische Artbegriff seine Probleme: So setzt dieser Artbegriff nämlich eigentlich voraus, dass man schon über andere Kriterien erkennen kann, wann die Artbildung eigentlich abgeschlossen ist - also Kriterien, nach denen wir zum Beispiel ein neu gefundenes Fossil als neue Art einstufen würden.

Um alle Lebewesen einordnen zu können, braucht es also verschiedene Vorgehensweisen. Und entsprechend solltest Du aus der Sache vielleicht mitnehmen, dass der Artbegriff keine starre Sache ist, sondern dass er unterschiedlich gefasst und definiert wird, wenn wir Fossilien betrachten oder heute lebende Arten. Wenn wir Einzeller oder höhere Lebewesen betrachten.

Grüße

Der biologische Artbegriff definiert eine Art als eine Fortpflanzungsgemeinschaft. Damit ist gemeint, dass Individuen genau dann zu einer Art gehören, wenn sie untereinander fruchtbar und uneingeschränkt fruchtbar sind (Einschränkung: in der egel müssen sich natürlich ein Männchen und ein Weibchen miteinander paaren, um Nachkommen zu zeugen).
Das bedeutet ganz konkret: zwei Individuen können sich paaren und dabei Nachwuchs zeugen, der selbst wieder komplett fruchtbar ist. Ein Beispiel dafür sind Löwe und Tiger. Tiger können sich mit anderen Tigern paaren und sind deshalb eine Art. Löwen und Löwen können sich ebenfalls mit Löwen paaren und sind deshalb eine andere Art. Wenn Löwe und Tiger sich aber miteinander fortpflanzen, dann ist die Jungtiersterblichkeit sehr viel höher und die männlichen Nachkommen sind in der Regel nicht fruchtbar - Tiger und Löwe gehören also nicht einer gemeinsamen Art an, weil sie sich nicht erfolgreich fortpflanzen können und das in der Natur auch nicht tun (im indischen Gir-Wald kommen beide Arten gemeinsam (sympatrisch) vor und könnten sich zumindest theoretisch paaren.

Das Problem am biologischen Artkonzept: was ist, wenn wir von Arten sprechen, die sich gar nicht miteinander fortpflanzen, weil sie keine sexuelle Fortpflanzung kennen (so genannte Agamospezies), so wie es für Einzeller typisch ist? Gibt es hier etwa keine Arten? Diese Frage impliziert schon: doch, die gibt es, aber das biologische Artkonzept kann auf sie nicht angewendet werden.
Man könnte solche Arten anhand ihrer Morphologie kennzeichnen (morphologisches Artkonzept). Doch hier ergibt sich schon wieder ein neues Problem: gerade Einzeller unterscheiden sich nur in sehr wenigen Merkmalen voneinander, oft wird eim Merkmal auch falsch interpretiert. Daher unterteilt man Arten hier sehr häufig nach ihnen eigenen biochemischen Reaktionswegen und physiologischen Einheiten (physiologisches Artkonzept). Wir können es uns aber auch einfach machen (das Überprüfen physiologischer Eigenschaften ist sehr zeitaufwändig) und ziehen molekularbiologische Daten zu Rate, wir vergleichen also die Sequenz ihrer DNA miteinander. Genau das wird heute auch gemacht und als Unterschiedungsgrenze hat man eine Grenze von 97 % Übereinstimmung festgelegt. Was also zu 97 % genetisch identisch ist, gehört einer gleichen Art an oder anders gesagt: sind die Unterschiede größer als 3 %, so haben wir es mit zwei verschiedenen Arten zu tun.

Dieses genetische Artkonzept ist aber sehr stark willkürlich festgelegt worden. Man hätte die Grenze ja auch durchaus bei 95 % oder 99 % ansetzen können, es gibt jedenfalls keine Begrüdung dafür, warum es ausgerechnet 97 % sein müssen.

Hier kommt nun das phylogenetische Artkonzept ins Spiel, das nach der Phylogenese (will heißen: der Stammesgeschichte) der Individuen einer Art geht. Eine phylogenetische Art sind also sämtliche Individuen, die einen gemeinsamen Vorfahren haben, also die gleiche Stammesgeschichte aufweisen. Hier wird auch der Vorteil der phylogenetischen Systematik deutlich, denn sie spiegelt die realen Verwandtschaftsverhältnisse wider. Das muss auf beispielsweise physiologische Eigenschaften nicht zutreffen. Zwei Bakterien können eine bestimmte physiologische Eigenschaft (z. B. die Fähigkeit der Sulfatatmung) unabhängig voneinander entwickelt haben, sie hätten diese also von zwei unterschiedlichen Vorfahren geerbt und die Ähnlichkeit wäre das Ergebnis einer konvergenten Evolution.
Dargestellt wird die Phylogenie in der Biologie in Form von Stammbäumen. Dabei repräsentieren die einzelnen Äste jeweils eine eigene Art und die Knotenpunkte, von denen diese abzweigen, repräsentieren den letzten gemeinsamen Vorfahren dieser Entwicklungslinie. Als Kriterium für die Phylogenie zieht man so genannte Autapomorphien zu Rate, damit sind Merkmale gemeint, die in einer Entwicklungslinie neu entstanden sind. Diese Autapomorphien können morphologische Merkmale sein. So ist die Autapomorphie der Fledertiere (Chiroptera) beispielsweise das Vorhandensein von Vorderextremitäten, deren einzelne Finger stark verlängert sind und zwischen denen sich eine Flughaut spannt. Eine Autapomorphie kann auch der Verlust eines in der Entwicklungslinie eigentlich vorhandenen Merkmals sein (dieser "Grundzustand" wird übrigens Plesiomorphie genannt). So ist für die Wale (Cetacea) beispielsweise der Verlust der Hintergliedmaßen typisch (der plesiomorphe Bauplan ihrer Vorfahren ist demnach das Vorhandensein von Hintergliedmaßen und tatsächlich besaßen frühe Wale wie Ambulocetus noch vier Beine). In der modernen phylogenetischen Systematik werden heute vermehrt DNA-Befunde genutzt, denn hier müssen nur vier "einfache" Merkmalszustände miteinander verglichen werden: nämlich die vier DNA-Basen Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin und ihre Abfolge. Eine Art ist dann also dadurch charakterisiert, dass alle Individuen eine bestimmte Abolfe dieser Basen (die Sequenz) aufweisen, die sie von einem Vorfahren haben.
Hier wird aber deutlich, dass auch das phylogenetische Artkonzept nicht frei von Interpretationsspielräumen ist. Wenn man nämlich nur mit größtmöglicher Auflösung sucht, findet man bei jedem Individuum eigenständige genetische Merkmale, die nur es selbst besitzt. Auf die Spitze getrieben kann man also behaupten, dass jedes einzelne Individuum eine eigene Entwicklungslinie darstellt und daher eine eigene Art repräsentiert. Wo man hier die Grenze zieht, ist also vom jeweiligen Systematiker wieder abhängig, ob er vermehrt Wert auf Ähnlichkeiten legt und größere Gruppen zu einer Art zusammenfast (solche Wissenschaftler nennen sich selbst Lumpers) oder er vermehrt Wert auf die Unterschiede legt und kleinere genetische Einheiten von anderen abtrennt, also traditionelle Arten in mehrere Arten aufspaltet (solche Forscher nennen sich Splitter).
So ist beispielsweise in einer Arbeit von 2016 vorgeschlagen worden, die Steppengiraffe (Giraffa camelopardalis) in mehrere genetische Einheiten (=Arten) zu spalten, mindestens 4 (die Nordgiraffe (Giraffa camelopardalis), die Südgiraffe (Giraffa giraffa), die Netzgiraffe (Giraffa reticulata) und die Massaigiraffe(G. tippelskirchii)), was bei vielen Leuten nach wie vor aber auf Skepsis stößt (so auch bei mir), die die Giraffe nach wie vor als eine einzelne Art betrachten. Richtig begründet sind aber beide Wege möglich und es wird sich zeigen, welche Sichtweise sich in Zukunft bei der Mehrheit der Systematiker durchsetzen wird.

Dass das aber nicht ganz ohne Konsequenzen und durchaus relevant ist, wird klar, wenn man sich anschaut, dass die Bestände der Giraffe sich in den vergangenen Jahrzehnten drastisch reduziert haben. Für den Artenschutz macht es dann sehr wohl einen Unterschied, ob ich sämtliche Populationen als eine Einheit betrachten darf mit einer vergleichsweise noch hohen Individuenzahl, oder ob ich vier unabhängige Arten managen muss, die nun auch eine deutlich kleinere Individuenzahl aufweisen, ob ich also eine große Art habe, die insgesamt "gefährdet" ist oder vier kleinere Arten, von denen jede sogar mindestens "stark bedroht" ist.

Noch eine Schwierigkeit ergibt sich beim phylogenetischen Artkonzept. Es kann nämlich nur dort angewendet werden, wo es an einem Knotenpunkt (einem Vorfahren) zur Aufspaltung von zwei Entwicklungslinien kommt, wo also Arten divergieren. Die Realität hat aber gezeigt, dass Evolutionsprozesse oft auch das Ergebnis einer Verschmelzung zweier Entwicklungslinien sein können. Das ist im großen Maßstab beispielsweise vorgekommen bei der Verschmelzung von Eukaryoten mit einer prokaryotischen Bakterienzelle so gewesen, die der Gattung Rickettsia sehr nahesteht. Das Ergebnis dieses Verschmelzungsprodukts war ein neues Zellorganell namens Mitochondrium und der Prozess, der zu seiner Entstehung führte, ist allgemein als Endosymbiontentheorie bekannt. Auf eni ähnliches Ereignis gehen die Plastiden (=Chloroplasten u.a.) zurück, die von einem Cyanobakterium ("Blaualge") abstammten. Im kleinen Maßstab können aber auch zwei Arten miteinander verschmelzen (hybridisieren) und Nachkommen hervorbringen, die untereinander fruchtbar sind, mit ihren beiden Elternarten jedoch nicht. Dies kommt häufig bei Pflanzen vor, bei Tieren ist dieses Phänomen eher selten, solche "vernetzte Evolution" ist aber beispielsweise von Steinkorallen (Skleractinia) bekannt.
Aus diesem Grund gibt es noch ein weiteres Artkonzept, das man als general lineage concept (Konzept der generellen Entwicklungslinie) bezeichnet. Demnach ist eine Art eine generelle Abstammungsgemeinschaft, es berücksichtigt daher, dass es auch zu einer Verschmelzung von Teilen von Entwicklungslinien kommen kann (dass beispielsweise Hybridisierungen gelegentlich vorkommen), von einer Art spricht man dann, wenn ihre Eigenständigkeit als Abstammungsgemeinschaft aber trotz dieser nebensächlichen Ereignisse noch gut erkennbar ist. Wenn man so will, ist dieses Konzept somit eine Art Synthese aus biologischem und physiologischem Artkonzept.

Eine letzte Bemerkung: das sind längst nicht alle Artkonzepte, die heute in der Biologie Verwendung finden. Mehr oder weniger geläufig sind mindestens 11 verschiedene Konzepte und welches man zugrunde legt, hängt auch stark von der Fragestellung ab. So wird ein Ökologe beispielsweise das ökologische Artkonzept vorziehen, bei dem eine Art sämtliche Individuen meint, welche exakt die gleiche ökologische Nische ausfüllen. Evolutionsbiologen werden sich vermehrt auf das phylogenetische, das sehr ähnliche evolutionäre oder das Konzept der general lineage konzentrieren, während für Züchter bedrohter Arten vor allem das biologische Artkonzept von Bedeutung sein dürfte.
Du siehst also: es ist bislang noch nicht gelungen, einen befriedigenden gemeinsamen Konsens zu finden und die Auffassungen, was genau eine Art eigentlich ist, können sehr verschieden sein. Und: es gibt sogar einige Biologen, welche jede Form eines Artkonzepts generell ablehnen und lieber in "Populationen" denken.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Biologiestudium, Universität Leipzig