Was bedeutet die "Formalisierung der Vernunft"?

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Formalisierung bedeutet Darstellung mit formalen Mitteln.

Theodor W. Adorno und Max Horkheimer lehnten ein identifizierendes und unter Allgemeinem systematisierendes Verfahren zur Erfassung der Wirklichkeit ab, weil es die Dimension des Individuellen und Einmaligen – also das konkrete Leben selbst – vernachlässige. Ihre kritische Theorie richtet sich gegen ein Denken, das sich in einem Urteil mit seinem Gegenstand identifiziere. Gegen erstarrende Begrifflichkeit wird ein Verflüssigen gesetzt.

In der begrifflichen Identifikation werde das Besondere des einzelnen Gegenstandes auf den Begriff hin reduziert, weil das einzelne Besondere in der Abstraktionsleistung unter einem Allgemeinbegriff eingeordnet werde und das Spezifische des Gegenstandes weggeschnitten werde. Etwas Nichtidentisches entziehe sich der begrifflichen Bestimmung. Das identifizierende Denken, das subsumiere, klassifiziere, kategorisiere und tautologische Operationen ausführe, bringe den Gegenstand der Erkenntnis nicht zur Darstellung, sondern zum Verschwinden. Diese Form des Denkens beschäftige sich eigentlich immer nur mit sich selbst, weil es nur das im begrifflichen Schema schon als Erkenntnis Vorgeformte erkenne. Auf Vereinheitlichung zielende formale Logik verliere den Bezug zu den Sachen, wenn logische Prinzipien zu Kriterien von Wissenschaftlichkeit gemacht würden. Eine Verdinglichung geschehe, die logische Sachverhalte als an sich seiende auffasse.

Das Vorgehen der instrumentellen Rationalität wird auch als Herrschaftsverfahren gesehen, bei dem gedanklich Gewalt gegenüber den Gegenständen ausgeübt werde, wobei auch politisch-gesellschaftlich Gesichtspunkte auftauchen.

Gerhard Schweppenhäuser, Theodor W. Adorno zur Einführung.1. Auflage. Hamburg : Junius, 1996 (Zur Einführung ; 132), S. 42:
„Fortschreitende Rationalität destruiert die Gewißheit mythischer Weltanschauung. Der unaufhaltsame Formalisierungsprozeß der Vernunft wird als permanente Götzendämmerung beschrieben, die schließlich, unter der Regie der entfalteten »Ratio des Kapitals«, im Tod Gottes gipfelt; aber nur, um an die Stelle der entzauberten Ideale das vergötzte falsche Ideal einer formalisierten, szientifisch verkürzten Systemvernunft zu setzen. Im Siegeszug der Aufklärung gewahren Horkheimer und Adorno deren Gegenteil. Vernunft wird zum Herrschaftsmittel. Wissenschaftliche Rationalität wird zum starren geschlossenen System, dem alles subsumiert werden soll, ob es hineinpaßt oder nicht.“

MaNic22 
Fragesteller
 19.07.2011, 21:07

Danke für die ebenfalls sehr hilfreiche Antwort. So in etwa, hatte ich den Hintergrundgedanken der Formalisierung auch aufgefasst. Allerdings kommen mir gleich 2 neue Fragen hoch: Zum einen, ob man sich aus diesem formalisierten Denken überhaupt befreien kann. Und zum anderen fällt hier ein Begriff, der auch im Buch benutzt wird: Götzendämmerung. Ich weiß nicht, ob dieser Begriff eine klare Bedeutung hat oder ob auf Nietzsches Buch angespielt wird - vielleicht können sie mir noch diesbezüglich weiterhelfen. Danke :)

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Albrecht  19.07.2011, 22:02
@MaNic22

1) Völlig ohne formalisiertes Denken geht es wohl kaum und die Vernunft kann nicht gut auf begriffliches Denken verzichten.

In Adornos Konzept ist Mimesis ein Zusatz, der Rationalität in einem Wechselspiel korrigieren soll, wobei Mimesis für sich noch keine Erkenntnisweise ist, sondern an Rationalität gebunden bleibt, um des „Nichtidentischen“ innezuwerden.

2) Bei einer Götzendämmerung werden (falsche) mythische Geltungsansprüche entzaubert und entmachtet. Bei dem Ausdruck ist ein auch Anspielen naheliegend, weil Adorno Nietzsche rezipiert hat und in dem Buch sich auch manchmal mit Namensnennung auf ihn bezieht.

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 3. Kapitel (Exkurs II): Juliette oder Aufklärung und Moral: „Nachdem die objektive Ordnung der Natur als Vorurteil und Mythos sich erledigt hat, bleibt Natur als Masse von Materie übrig. Nietzsche weiß von keinem Gesetz, »welches wir nicht nur erkennen, sondern auch über uns erkennen«. Soweit Verstand, der am Richtmaß der Selbsterhaltung groß wurde, ein Gesetz des Lebens wahrnimmt, ist es das des Stärkeren. Kann es für die Menschheit wegen des Formalismus der Vernunft auch kein notwendiges Vorbild abgeben, so genießt es den Vorzug der Tatsächlichkeit gegenüber der verlogenen Ideologie. Schuldig, das ist Nietzsches Lehre, sind die Schwachen, sie umgehen durch ihre Schlauheit das natürliche Gesetz.“

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MaNic22 
Fragesteller
 19.07.2011, 22:10
@Albrecht

Ok, das leuchtet mir alles ein... bis auf eine Sache ^^ so oft ich nun auch schon Fragen hatte, diese müsste ich doch noch geklärt haben: Mimesis bedeutet doch ursprünglich "Nachahmung". Inwiefern kann dies Rationalität erweitern?

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Albrecht  19.07.2011, 22:30
@MaNic22

Die Nachahmung geschieht durch Angleichung. Adorno denkt an ein ein Ähnlichwerden von Subjekt und Objekt, bei dem durch ein gewissermaßen anschmiegendes Vorgehen auch das Besondere (Einmalige und Individuelle) des Gegenstandes vermittelt wird. Das mimetische Verhalten soll auch das Besondere treffen und eine nichtbegriffliche Beziehung herstellen.

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Dazu zwei Zitate aus Wikipedia, Dialektik der Aufklärung (fett von mir):

"Das Werk begründet die These, dass das Scheitern der Aufklärung bereits in der „instrumentellen Vernunft“ ihres Denkens angelegt sei." und

"Nach Horkheimer/Adorno ist die Abstraktion das Werkzeug, mit dem die Logik von der Masse der Dinge geschieden wird. Das Mannigfaltige wird quantitativ unter eine abstrakte Größe gestellt und vereinheitlicht, um es handhabbar zu machen. Das symbolisch Benannte wird formalisiert; in der Formel wird es berechenbar und damit einem Nützlichkeitsaspekt unterzogen, verfügbar und manipulierbar zu sein. Das Schema der Berechenbarkeit wird zum System der Welterklärung. Alles, was sich dem instrumentellen Denken entzieht, wird des Aberglaubens verdächtigt. Der moderne Positivismus verbannt es in die Sphäre des Unobjektiven, des Scheins."

Das Werk ist eine pessimistische Reaktion auf das Versagen der deutschen Intelligenz in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Wie konnte im Land der Aufklärung soetwas geschehen? Lag es vielleicht an der Art der Aufklärung selbst. Dazu ist zu sagen, dass sich bereits Schopenhauer, Nietzsche kritisch zur "Instrumentalisierung der Vernunft" geäußert haben. Im Grunde ist es eine Verzweiflung an der Machtlosigkeit der Vernunft. Hätten die Herren mal nicht nur Kant gelesen sondern auch Hume, denn der hat bereits gesagt, dass die Vernunft allzuoft nur als Dienerin der Emotionen missbraucht wird. Man kann durchaus sagen, dass z.B. bei Epikur ein ähnlicher wenn auch schwächerer Pessimismus vorherrscht, wenn er die Möglichkeiten sinnvollen Wirkens in der Öffentlichkeit für begrenzt hält.

Ich selbst bin, ich glaube in einigen Stellungnahmen habe ich das geschrieben, ebenfalls der Abstraktion gegenüber skeptisch, wenn Bezüge ins Allgemeine geschoben formalisiert wie Matheformeln zu "Rechenergebnissen" führen, bei denen man sich fragt, wo da noch der Rückbezug zur Wirklichkeit ist. Als eingefleischter Empirist misstraue ich den "reinen" Begriffsverschiebebahnhöfen. Mir reicht es nicht, dass die Satz- und Begriffslogik formal sauber ausgeführt sind. Allerdings glaube ich nicht, dass das der Grund für das Scheitern des "Ideals der Aufklärung" war.

MaNic22 
Fragesteller
 18.07.2011, 22:07

Danke für diese aufklärende Passage und die Informationen. Tatsächlich bin ich dieser Abstraktion gegenüber erst seit kurzem skeptisch. Früher war ich noch ein eingefleischter Positivist (natürlich ohne die Bezeichnung zu kennen). Ich glaube, umso mehr man sich mit Philosophie beschäftigt, desto mehr muss man auch an den Aussagemöglichkeiten von Formeln und absoluten Wahrheiten zweifeln.

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Angel84  19.07.2011, 08:57
@MaNic22

Tja, letztlich ist Philosophie "Mindfucking auf höherem Niveau" und kann dem ganzen Wesen Mensch nicht gerecht werden ;-)))

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berkersheim  19.07.2011, 09:32
@Angel84

@Angel84

Wer wird denn gleich das Kind mit dem Bad ausschütten?

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Adorno und Horkheimer benützen diesen Begriff, um darauf hinzuweisen, das sich die allgemeine Vernunft zweckrationalen Interessen und Verhaltenmustern untergeordnet hat und kein freies, sondern ein zwanghaftes Denken das Verhalten der Menschen (in Deutschland) bestimmt.

Die Vernunft wird in diese Zusammenhang als unfrei haltendes und beschränkendes Konstrukt und Werkzeug geschildert, die im Dienste der herrschenden Kräfte einseitgen, zweckrationalen Zwecken zu folgen hat.