Warum ist für Epikur die Lust das Lebensziel?

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Epikur (griechisch: Ἐπίκουρος [Epikouros]) ist ein Philosoph, der ein an Empirie orientiertes (auf Erfahrung beruhendes und auf sie ausgerichtetes) Vorgehen für wichtig hält. Wahrheitskriterien (Maßstäbe und Prüfsteine für die Unterscheidung zwischen richtig und falsch) sind nach seiner Auffassung (vgl. z. B. Epikur, Kyriai Doxai 24) Wahrnehmungen (griechisch: αἰσθήσεις; Singular: αἴσθησις) und Empfindungen (griechisch: πάθη; Singular: πάθος), möglicherweise (vgl. Diogenes Laertios 10, 31) zusätzlich noch Vorwegnahmen/Vorbegriffe (griechisch: προλήψεις; Singular: πρόληψις), das heißt direkt der Erfahrung oder der wiederholten Wahrnehmung entnommene Allgemeinbegriffe.

Epikur hält für die Behauptung, Lust (griechisch: ἡδονή [hedone]) sei ein Gut, keine aufwendigen Beweise für nötig. Anscheinend versteht er dies als einen Sachverhalt, der aufgrund der Erfahrung der Menschen und der von ihnen gefühlten Empfindungen evident (offenkundig, einleuchtend) ist.

Ziel allen Handelns ist nach Epikur das gute Leben (εὐ ζῆν), das selige Leben (μακαρίως ζῆν) oder anders gesagt das Glück/die Glückseligkeit (griechisch: εὐδαιμονία [eudaimonia]), das heißt ein gutes Leben des Wohlbefindens und Wohlergehens (die Wortbildung geht auf die Vorstellung zurück, einen „guten Daimon“ zu haben, was bedeutet, ein wohlgeratenes, gesegnetes, gedeihliches, wunschgemäßes, preisenswertes Leben zu führen).

Glück/Glückseligkeit ist nach Epikurs Auffassung von Lust bzw. dem Freisein von Unlust/Schmerz/Leid bestimmt. Weil Epikur das Freisein von Unlust/Schmerz/Leid für vorrangig hält, kann seine Ethik als ein negativer Hedonismus (Vermeidung von Unlust/Schmerz/Leid ist am wichtigsten) bezeichnet werden.

Epikur unterscheidet a) natürliche und notwendige Bedürfnisse (dazu gehören die Grundbedürfnisse), b) natürliche und nicht-notwendige Bedürfnisse und c) nicht-natürliche und nicht-notwendige Bedürfnisse. Natürliche und notwendige Bedürfnisse müssen für ein gutes Leben befriedigt werden und haben Vorrang. Natürliche und nicht-notwendige Bedürfnisse sind verzichtbar, ihre Befriedung kann gewählt werden, sollte aber klug geprüft werden und nicht in Maßlosigkeit ausufern. Nicht-natürliche und nicht-notwendige Bedürfnisse beruhen auf falschen Meinungen und Einbildungen/nichtigen Vorstellungen, von ihnen (z. B. einer unbegrenzten Gier nach Reichtum oder einem Ruhmbegierde mit unbegrenztem Ehrgeiz) sollten sich Menschen nicht antreiben lassen. 

Epikur erklärt einen mit Dauer verbundenen Zustand, die Seelenruhe (griechisch: ἀταραξία [ataraxia]; „Unerschütterlichkeit“) und die körperliche Schmerzlosigkeit (griechisch: ἀπονία [aponia]) für die Vollendung des glückseligen Lebens. In diesem heilen, angenehmen Zustand besteht kein Mangel, da keine unbefriedigten Wünsche vorhanden sind. Die Seelenruhe beschreibt Epikur bildlich als glatte Meeresoberfläche bei Windstille. Die Seelenruhe ist ein Zustand heiterer Gelassenheit.

Begründungen für Lust als Lebensziel

1) Verbindung zwischen Glück/Glückseligkeit und Lust

Glück/Glückseligkeit ist ein von allen um seiner selbst willen erstrebtes Gut und damit ein Endziel. Nach Epikurs Auffassung besteht Glück in der Empfindung von Lust bzw. dem Freisein von Unlust/Schmerz/Leid. Lust ist allgemein Anfang/Ausgangspunkt und Ende des glückseligen Lebens (Epikur, Brief an Menoikeus, Diogenes Laertios 10, 128). Das Streben, das sich in jedem Wählen und Meiden ausdrückt, beginnt mit der Lust und endet bei der Lust, indem jedes Gut mit der Empfindung als Maßstab beurteilt wird.

2) Lust als etwas an sich Gutes

Keine Lust ist an sich etwas Schlechtes (Epikur, Kyriai Doxai 8), sondern jede Lust an sich etwas Gutes. Lust als solche ist ein Gut und damit ein erstrebenwertes/wünschenswertes Ziel. Epikur trifft die Feststellung (Brief an Menoikeus, Diogenes Laertios 10, 124): Jedes Gut und Übel ist in der Wahrnehmung. Dieser Standpunkt ist ein Sensualismus (Erfahrung der Sinne ist grundlegend). Epikurs Darlegung zielt offenbar auf folgenden Gedanken: Wenn alles, was für Menschen von Bedeutung ist, in der Wahrnehmung und in der Empfindung gegeben ist, liegt alles, was für Menschen gut ist, in der guten (angenehmen) Art der Empfindung, und dies ist die Lust. Weil es auch unangenehme Begleiterscheinungen und Folgen haben kann, einer Lust nachzugehen, ist nicht jede Lust in einer augenblicklichen Lage wählenswert.

Epikur, Ausgewählte Schriften. Übersetzt und herausgegeben von Christof Rapp. Stuttgart : Kröner, 2010 (Kröners Taschenausgabe ; Band 218), S. 6 (Brief an Menoikeus 129).

„Denn wir haben diese als das erste und angeborene Gut erkannt und wir betrachten diese als Ausgangspunkt für jedes Wählen und Meiden und auf sie kommen wir zurück, indem wir jedes Gut durch das Kriterium der Empfindung (pathos) beurteilen. Und weil dies das erste und angeborene Gut ist, wählen wir aus diesem Grund nicht jedwede Lust, sondern lassen manchmal vielerlei Lüste aus, wenn uns aus diesen ein größeres Übel folgen würde. Und viele Schmerzen halten wir für besser als Lüste, nämlich dann, wenn für uns eine größere Lust folgt, nachdem wir längere Zeit Schmerzen ertragen haben. Also ist jede Lust ein Gut, weil sie eine uns verwandte Natur hat, nicht jede freilich ist wählenswert; wie auch jeder Schmerz ein Übel ist, aber nicht jeder auf natürliche Weise vermieden werden darf.“

3) Lust als von der Natur gegebenes Ziel

Lust ist etwas Natürliches. Sie wird als ein erstes und angeborenes Gut erkannt. Wie Beobachtung zeigt, streben Menschen und allgemein die Lebewesen von Natur aus nach Lust und meiden den Schmerz. Neugeborenen Lebewesen, bei denen noch keine möglicherweise verfälschenden Einflüsse stattgefunden haben können, gefällt von Natur aus Lust sofort und sie streben danach, während sie gegenüber Schmerz Abneigung haben und versuchen ihn zu vermeiden.

Die Sinnlichkeit mit Empfindungen der Lust und der Unlust/des Schmerzes/des Leidens gibt die unmittelbaren, ursprünglichen Wertungen Die Bewertung der Lust als gut und grundlegender Wert ist damit keine Sache weiterer rationaler Begründung, sondern eine Gegebenheit der Natur.

Was bei einem unverfälschten natürlichen Verhalten erstrebt wird, gilt bei Epikur als erstrebenswert und damit als Ziel.

Epikur, Ausgewählte Schriften. Übersetzt und herausgegeben von Christof Rapp. Stuttgart : Kröner, 2010 (Kröners Taschenausgabe ; Band 218), S. 37 (Diogenes Laertios 10, 137).

„Als Beweis für die Annahme, dass die Lust das Ziel sei, führt er die Beobachtung an, dass die Lebewesen gleich von Geburt an mit ihr zufrieden sind, während sie sich dem Schmerz widersetzen – und dies von Natur aus und ohne Überlegung.“

Epikur, Ausgewählte Schriften. Übersetzt und herausgegeben von Christof Rapp. Stuttgart : Kröner, 2010 (Kröners Taschenausgabe ; Band 218), S. 39 (Marcus Tullius Cicero, De finibus bonorum et malorum 1, 29 – 30 [Lucius Manlius Torquatus bietet im Gespräch eine Darstellung zu Epikurs Ethik]):

„Dieses (höchste Gut) setzt Epikur nun in die Lust, von der er will, dass sie das höchste Gut sei; und das größe Übel sei der Schmerz, und er versucht dies auf folgende Weise dazulegen: Jedes Lebewesen strebe, sogleich wenn es geboren wird, nach der Lust und freue sich an ihr wie an dem höchsten Gut, den Schmerz aber verschmähe es wie das größte Übel und versuche soweit es möglich ist, diesen von sich fern zu halten – dies tue es, solange es noch nicht verdorben sei und seine Natur selbst unkorrumpiert und unverfälscht urteile. Deswegen bestreitet er (Epikur), dass man einen Beweis oder eine Erörterung dafür brauche, weswegen die Lust erstrebenswert und der Schmerz zu vermeiden sei. Er ist der Meinung, dass man das spüre, so wie man spüre, dass das Feuer heiß, der Schnee weiß und der Honig süß sei. Davon müsse man nichts mit ausgesuchten Beweisen bestätigen, vielmehr genüge es, nur daran zu erinnern.“

4) Verfügbarkeit von Lust

Epikur hält Lust für eine Sache, die Menschen verfügbar ist, wenn nicht unbegrenzten Begierden nachgejagt wird (vgl. Epikur, Kyriai Doxai 21). Das, was zur Seelenruhe führt, ist zu beschaffen. Insofern ist Lust ein sinnvolles Lebensziel.

Das ist aber eine seltsame Lust für einen Lüstling - keine Schmerzen haben! Ja an diesen Aussagen Epikurs beißen sich viele die Zähne aus, wenn sie die christlichen Entstellungen der epikureischen Philosophie nachplappern. Lebensziel Epikurs war die Gelassenheit, war die möglichst große Freiheit und Selbstbestimmtheit eines Individuums im Rahmen einer - auch mit seiner Hilfe - funktionierenden Gesellschaft. Diese Freiheit, Selbstbestimmtheit und Gelassenheit sah er bedroht von zwei Seiten:

Einmal eine über die natürliche Angst hinaus geschürte künstliche Angst vor Hölle, Tod und Teufel, mit der die Politiker und der Klerus die Menschen wie Marionetten manipulieren.

Zum anderen sah Epikur die Freiheit und Selbstbestimmtheit bedroht durch Verfallensein an übermäßige Lust, an Gier nach Geld und Macht, die ein freies Wesen in ihren Bann und ihre Abhängigkeit ziehen können. Dazu zählen auch Rauschmittel, die ja unkontrolliert konsumiert ebenso abhängig machen können.

Für Epikur sind die Erfahrungen Lust und Schmerz nur Extrempunkte auf einer breiten Skala der Gefühle und in der Mitte ist die Schmerzlosigkeit. Diese strebt er vorwiegend an, weil man dort die meiste Kontrolle über die Emotionen hat, auch mal mit Freude wie mit Schmerz umgehen kann, wenn man danach wieder in den "grünen Bereich" in der Mitte zurückfinden kann.

Da Epikur aus kleinen Verhältnissen stammt hielt er für wichtig, dass erst mal die Grundbedürfnisse, Essen, Trinken, Wohnen und Kleidung sichergestellt waren. Seine Freundeskreise hatten sozialen Charakter, denn zu seiner Zeit waren die Menschen noch weitgehend auf sich selbst gestellt. Es gab noch keinen Sozialstaat, außer dass freie Bürger wie er zwei Jahre Militärdienst ableisten mussten.

Wenn es um unseren modernen Staat geht führen viele dessen Errungenschaften auf den Gesellschaftsvertrag der Aufklärung (Rousseau, Hobbes, Locke) zurück ohne zu erwähnen, dass die Idee des Gesellschaftsvertrags ursprünglich von Epikur stammt.

Übrigens wollten alle antiken Philosophen die Eudaimonie für die Menschen wie Epikur. Denn in der Antike war jeder für das Gelingen seines Lebens verantwortlich und wie man ein gelingendes Leben erreichen kann war Kern der damaligen Lebensphilosophie. Erst das Christentum hat diese durch die Vorschriften und Dogmen der Kirche abgeschafft, weil es nicht mehr um das aktuelle Leben sondern das (nur versprochene) ewige Leben ging. Epikur, der nicht nur geistige sondern auch körperliche Freuden akzeptierte und obendrauf nicht mal an ein Weiterleben nach dem Tod glaubte, war den Leibverächtern und Ewigkeitsseligen ein großer Feind, den sie verunglimpft und 95% seiner Werke vernichtet haben. Nur durch Glück sind wenige Briefe und ein Lehrgedicht erhalten geblieben.