Warum "fühlt" niemand Gedichte?

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Hallo!

Die meisten verstehen Gedichte zumindest in diesem Alter nicht.. sie haben noch keinen Sinn für Poesie oder kein Interesse dran, leiern es emotionslos runter "weil es Schule und damit uncooles Pflichtprogramm ist" & sind in erster Linie dran interessiert, dass es vorbei ist & man bald nach Hause kann. Mir ging es damals genauso :)

Gedichtanalysen sind zudem ein trockenes Thema.. ein klassisches "ich mach' es halt, weil ich es muss"-Thema. Dafür muss man ein Faible haben, das man in jungen Jahren eben noch nicht hat. Es ist wie mit klassischer Musik ------> auch da kommt man oft im vorgerückten Alter erst auf den Trichter, weil man die Reife und die Zeit braucht, um diese Musik genießen zu können.

Allerdings hängt diese "Aversion" gegenüber Gedichten auch mit der gängigen Gedichtauswahl an Schulen zusammen: Es wird seltenst Stoff präsentiert, mit dem die jungen Leute was anfangen können. In der Regel sind das Werke in schwer verständlicher, alter Sprache und das dazu von Leuten, die schon viele Jahre tot sind und die vllt. Literaturexperten bekannt sind, aber eben nicht der Jugend. Es ist also nichts Greifbares, nichts, was einen Jugendlichen ansprechen würde.

Ich kann mich demzufolge nur an ein einziges Gedicht erinnern, das ich in meinen 13 Jahren Schule gelernt habe und noch immer auswendig kann --------> "Uno, due, tre" von Josef Reding, gelernt in der 6. Klasse im Januar 2003. Warum? Es ist leicht verständlich geschrieben, hat eine für Kinder nachvollziehbare Handlung (spielt im Schulbereich), ist speziell für Kinder/Jugendliche geschrieben. Und Josef Reding lebt immer noch, also war das kein "Literaturpapst", der schon hunderte von Jahren tot ist.

Die meisten Gedichte, die wir sonst lernten, waren Gedichte im typischen Klischee: Alt, schwer geschrieben, mit unbekannten Wörtern und komplexem Satzbau, verworrenen Handlungen und vielen Metaphern, die man erst mal verstehen musste. Die haben wir gelernt, weil wir es mussten und auswendig runtergeleiert, damit wir die 2 bekamen beim Aufsagen.. verstanden haben wir sie nicht. Ich erinnere mich ganz dunkel an den Zauberlehrling oder Gottfried Kellers "Christmarkt vor dem Berliner Schloss", kann zu denen aber kaum mehr als 1-2 Textstellen sagen (im Gegensatz zu "Uno, due, tre" von Josef Reding). 

Ich (26) gebe zu, dass ich mit dem "Gedicht" von Sarah Kirsch auch nichts anfangen kann -------> für mich sind das ein paar aneinandergereihte Worte, deren Aussage ich zwar verstehe, aber es gibt mir persönlich einfach nichts. Der Sprachaufbau ist für mich unattraktiv -------> will sagen: Gedichte sind höchst subjektiv & wenn du z.B. nach diesem Werk drei Leute fragst hast du vier Antworten.

BlackBanan24  24.09.2016, 14:11
und die Zeit braucht, um diese Musik genießen zu können.

Zu dem Aspekt "Zeit" könnte man noch ergänzen, dass eben genau das im Unterricht fehlt. Danke G8...

In einer Doppelstunde werden nicht 1-2 Gedichte besprochen, sondern 4-5. In einer Klausur soll nicht nur ein Gedicht analysiert werden, sondern 2, und die sollen in einer weiteren Aufgabe unter verschiedenen Aspekten und am besten noch in Bezug auf einen zusätzlichen Sachtext, miteinander verglichen werden. Wenn man kaum Zeit hat, sich mit einem Gedicht zu befassen, hat man auch kaum die Möglichkeit sich damit emotional auseinander zu setzen.

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Warum geht es allen immer nur darum, irgendeinen Sinn zu finden, wenn
Wortkompinationen und Spiele einen regelrecht Abheben lassen können?

Vermutlich weil Lehrer in einer Prüfung den Sinn wissen wollen und dir keine 1 dafür geben, dass du sagst, dass das Gedicht dich hat abheben lassen.

Das viele Menschen mit Gedichten nicht viel anfangen können ist aber nicht nur in der Schule so. Das ist generell so. Es könnte an zwei Dingen liegen. Zum einen wird das Gedicht als etwas empfunden was erst mühevoll auseinander gepflückt werden muss, bevor man seinen wahren Sinn erkennen kann. Das ist vielen zu mühsam. Zum anderen gibt ein Gedicht oft keine eindeutigen Interpretationen her. Ich hatte da schon Diskussionen mit Deutsch Lehrern wie sie darauf kommen, dass ihre Interpretation die einzig mögliche sinnvolle Interpretation sein soll. Wieso könnte nicht auch ich recht haben mit einer anderen Sicht des Sinnes. Der Autor des Gedichtes ist meistens schon lange tot und kann dazu nichts mehr sagen.

Das ist 1. nicht die Methodik, die im deutschen Schulsystem unterrichtet wird. Und 2. empfindet jeder Gedichte anders (weswegen das mit der Methodik und der Kommunikation dann wohl auch eher schwierig wird).

Ich kann mich an kein Gedicht, was ich in der Schule gelesen hab, erinnern, was mich irgendwie berührt hat. Fand die eher öde oder belanglos.
Kann mit dem von dir zitierten Gedicht auch nicht viel anfangen.
Wenn man außerdem sowas vorgesetzt bekommt, mit der Erwartung es zu analysieren, ist es nicht verwunderlich, dass man nicht die Muße hat, sich auf das Gedicht einzulassen.

 Hallo Marilynsflight,

Dank für Deine Frage, die ich erst jetzt entdecke.

Es ist ja sehr verständlich, dass wir ein Gedicht „verstehen“ wollen.

Aber Gedichtinterpretationen gehen nach meinem Gefühl  an dem, was ich mal „Sinngestalt“ nennen möchte, meist vorbei.

Auf meinem Tisch liegt seit dem 7. November der Text von YOU WANT IT DARKER, von Leonard Cohen. Ich lese die Zeilen täglich (und höre auch seine Stimme). Und  allein durch das tägliche Lesen kommt dieses  „Gedicht“ allmählich zu mir. Ich beginne das "Gedicht" – wie Du so schön sagst – zu fühlen.-

In dem Zusammenhang  beschäftigt mich noch der anmaßend klingende Gedanke, dass in mir etwas ins Schwingen kommt, was ein Gedicht jenseits des Sagbaren vermittelt. Ein Gedicht fühlen heißt für mich:

Etwas von dem Erleben, was jenseits des Interpretierbaren uns ein weiter gespanntes Erleben vermittelt, als uns unser Denken zur Verfügung stellen kann.

Wenn Du in einer Schulstunde von einem Gedicht so angesprochen wurdest, dann finde ich das  außergewöhnlich.

Sei glücklich über diese Gabe und mach Dir keine Gedanken darüber, dass Du kaum Resonanz für Dein Erleben findest.

Sicher fühlst Du selber, dass Du Deine Gabe nicht als verwertbare Begabung begreifen solltest.

Gedichte fühlen heißt für mich: Empfindsam für „das ganze Leben“  werden.

Ich wünsche Dir gute Zeiten mit Gedichten.

Pescatori

Ich kann dich wirklich sehr gut verstehen…

Manche finden es vllt. tatsächlich nicht bewegend oder rührend. Vielleicht achten sie einfach nur darauf, dass das hier Schule und Unterricht ist…

Und Andere versuchen es manchmal auch nur zu verstecken, um nicht als nah am Wasser gebaut zu gelten.

Aber behalte deine Sensibilität und lass sie nicht verhärten, denn das ist, meiner Meinung nach, sehr wichtig!

LG Naemi777