Nietzsche Nihilismus: Welches Werk drückt am besten seine Definition von Nihilismus aus?

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Bei Friedrich Nietzsche sind Gedanken zum Nihilismus in mehreren Werken enthalten. Dies geschieht allerdings nicht bei allen Werken genau in gleichem Ausmaß. In „Zur Genealogie der Moral“ ist die Anzahl der Stellen verhältnismäßig hoch. Bei Friedrich Nietzsche kommt außerdem das Thema seit 1880 in Aufzeichnungen vor, in einer großen Anzahl von Stellen und oft sehr aussagekräftig. Es gibt dazu keinen Titel eines abgeschlossenen ganzen Werkes.

Die zum Thema wichtigen nachgelassenen Fragmente enthält die Kritische Studienausgabe, Band 12 und Band 13.

Dazu gehört ein umfangreiches Fragment (Bruchstück) „Der europäische Nihilismus“, Lenzer Heide, den 10. Juni 1887 (Nachlaß Sommer 1886 – Herbst 1887 5 [71]). Es war für das erste Buch eines Entwurfs „Der Wille zur Macht, Versuch einer Umwerthung aller Werthe“ geplant.

Einiges war für ein folgendes Buch zur Geschichte des europäischen Nihilismus vorgesehen. Nachlaß Herbst 1887 9 [35], 9 [41], 9 [43], 9 [45] ist ziemlich bedeutsam.

Hinweise zu einzelnen Werken:

Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (1882). Die fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza“). Neue Ausgabe mit einem Anhange: Lieder des Prinzen Vogelfrei (1887).

Drittes Buch Nr. 125 Der Tolle Mensch (verkündet den Tod Gottes)

Fünftes Buch Wir Furchtlosen Nr. 346 („Die ganze Attitüde „Mensch gegen Welt“, der Mensch als „Welt-verneinendes“ Princip, der Mensch als Werthmaass der Dinge, als Welten-Richter, der zuletzt das Dasein selbst auf seine Wagschalen legt und zu leicht befindet — die ungeheuerliche Abgeschmacktheit dieser Attitüde ist uns als solche zum Bewusstsein gekommen und verleidet, — wir lachen schon, wenn wir „Mensch und Welt“ nebeneinander gestellt finden, getrennt durch die sublime Anmaassung des Wörtchens „und“! Wie aber? Haben wir nicht eben damit, als Lachende, nur einen Schritt weiter in der Verachtung des Menschen gemacht? Und also auch im Pessimismus, in der Verachtung des uns erkennbaren Daseins? Sind wir nicht eben damit dem Argwohne eines Gegensatzes verfallen, eines Gegensatzes der Welt, in der wir bisher mit unsren Verehrungen zu Hause waren — um deren willen wir vielleicht zu leben aushielten —, und einer andren Welt, die wir selber sind: einem unerbittlichen, gründlichen, untersten Argwohn über uns selbst, der uns Europäer immer mehr, immer schlimmer in Gewalt bekommt und leicht die kommenden Geschlechter vor das furchtbare Entweder-Oder stellen könnte: „entweder schafft eure Verehrungen ab oder — euch selbst!“ Das Letztere wäre der Nihilismus; aber wäre nicht auch das Erstere — der Nihilismus? — Dies ist unser Fragezeichen.“)

Fünftes Buch Wir Furchtlosen Nr. 347 („In der That dampft um alle diese positivistischen Systeme der Qualm einer gewissen pessimistischen Verdüsterung, Etwas von Müdigkeit, Fatalismus, Enttäuschung, Furcht vor neuer Enttäuschung — oder aber zur Schau getragener Ingrimm, schlechte Laune, Entrüstungs-Anarchismus und was es alles für Symptome oder Maskeraden des Schwächegefühls giebt. Selbst die Heftigkeit, mit der sich unsre gescheidtesten Zeitgenossen in ärmliche Ecken und Engen verlieren, zum Beispiel in die Vaterländerei (so heisse ich das, was man in Frankreich chauvinisme, in Deutschland „deutsch“ nennt) oder in ästhetische Winkel-Bekenntnisse nach Art des Pariser naturalisme (der von der Natur nur den Theil hervorzieht und entblösst, welcher Ekel zugleich und Erstaunen macht — man heisst diesen Theil heute gern la verité vraie —) oder in Nihilismus nach Petersburger Muster (das heisst in den Glauben an den Unglauben, bis zum Martyrium dafür) zeigt immer vorerst das Bedürfniss nach Glauben, Halt, Rückgrat, Rückhalt…“) Nr. 24 Nr. 26 Nr. 27 Nr. 28

Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886).

Erstes Hauptstück: von den Vorurtheilen der Philosophen Nr. 10

Sechtes Hauptstück: wir Gelehrten Nr. 208

Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887).

Vorrede Nr. 5 Erste Abhandlung: „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“. Nr. 12

Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes. Nr. 12 Nr. 21 Nr. 24 („Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird, als von dem, was aus ihm wachsen musste, vom grossen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und der grossen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgiebt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts — er muss einst kommen…“)

Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale? Nr. 14 („Je normaler die Krankhaftigkeit am Menschen ist — und wir können diese Normalität nicht in Abrede stellen —, um so höher sollte man die seltnen Fälle der seelisch-leiblichen Mächtigkeit, die Glücksfälle des Menschen in Ehren halten, um so strenger die Wohlgerathenen vor der schlechtesten Luft, der Kranken-Luft behüten. Thut man das?… Die Kranken sind die grösste Gefahr für die Gesunden; nicht von den Stärksten kommt das Unheil für die Starken, sondern von den Schwächsten. Weiss man das?… In’s Grosse gerechnet, ist es durchaus nicht die Furcht vor dem Menschen, deren Verminderung man wünschen dürfte: denn diese Furcht zwingt die Starken dazu, stark, unter Umständen furchtbar zu sein, — sie hält den wohlgerathenen Typus Mensch aufrecht. Was zu fürchten ist, was verhängnissvoll wirkt wie kein andres Verhängniss, das wäre nicht die grosse Furcht, sondern der grosse Ekel vor dem Menschen; insgleichen das grosse Mitleid mit dem Menschen. Gesetzt, dass diese beiden eines Tages sich begatteten, so würde unvermeidlich sofort etwas vom Unheimlichsten zur Welt kommen, der „letzte Wille“ des Menschen, sein Wille zum Nichts, der Nihilismus.“) Nr. 24 Nr. 26 Nr. 27 Nr. 28

Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt (1889).

Sprüche und Pfeile Nr. 34 Streifzüge eines Unzeitgemässen. Nr. 21 Nr. 32 Nr. 50

Friedrich Nietzsche, Der Antichrist. Fluch auf das Christentum.

Nr. 6 Nr. 7 Nr. 9 Nr. 11 Nr. 58

Friedrich Nietzsche, Ecce homo.Wie man wird, was man ist.

Warum ich so gute Bücher schreibe. Nr. 1 („Wer Etwas von mir verstanden zu haben glaubte, hat sich Etwas aus mir zurecht gemacht, nach seinem Bilde, — nicht selten einen Gegensatz von mir, zum Beispiel einen „Idealisten“; wer Nichts von mir verstanden hatte, leugnete, dass ich überhaupt in Betracht käme. — Das Wort „Übermensch“ zur Bezeichnung eines Typus höchster Wohlgerathenheit, im Gegensatz zu „modernen“ Menschen, zu „guten“ Menschen, zu Christen und andren Nihilisten — ein Wort, das im Munde eines Zarathustra, des Vernichters der Moral, ein sehr nachdenkliches Wort wird, ist fast überall mit voller Unschuld im Sinn derjenigen Werthe verstanden worden, deren Gegensatz in der Figur Zarathustra’s zur Erscheinung gebracht worden ist, will sagen als „idealistischer“ Typus einer höheren Art Mensch, halb „Heiliger“, halb „Genie“…“)

Lexikonartikel:

Elisabeth Kuhn, Nihilismus. In: Nietzsche-Handbuch : Leben - Werk - Wirkung. Herausgegeben von Henning Ottmann. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2000, S. 293 – 298

Wolfgang Müller-Lauter, Nihilismus I. Der N.-Begriff in West- und Mitteleuropa. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 6: Mo – O. Basel ; Stuttgart : Schwabe, 1984, Spalte 850 - 851

Gerard Visser, Nihilismus. In: Nietzsche-Lexikon. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage. Herausgegeben von Christian Niemeyer. Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 201, S. 275 – 277

Bücher:

Eike Brock, Nietzsche und der Nihilismus. Berlin ; München ; Boston : De Gruyter, 2015 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Band 68). ISBN 978-3-11-031798-5

Elisabeth Kuhn, Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus. Berlin ; New York : de Gruyter, 1992 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Band 25). ISBN 3-11-012907-8

Die Themen "Nihilismus" (wie Nietzsche es versteht), "Gott ist tot" und "Umwertung aller Werte" (Kritik christlich geprägter Werte), dazu "die ewige Wiederkehr des Gleichen" und "der Übermensch" hängen miteinander zusammen und ziehen sich durch alle Werke. Dazu auch Wikipedia: Nietzsche und dort der Abschnitt „Gott ist tot“ – Der „europäische Nihilismus“. Viel davon steht bei genauerem Hinschauen und weniger aufgeregt bereits bei Epikur, DER anti-idealistischen Lebensphilosophie der Antike und naturgemäß vom aufkommenden Christentum zum Todfeind erklärt. Vielen fällt in der oberflächlichen Interpretation Epikurs gar nicht auf, dass Nietzsches Nihilismus dort grundgelegt ist. Es gibt keine absolute Wahrheit. Die Götter sind nicht maßgebend sondern nur Spiegel unserer Interpretation. Die Welt ist ein ewiges Sein als unendlicher Prozess ohne Sinn und Ziel. Lebenssinn zu schaffen, ist unsere eigene Aufgabe in Freiheit. Das ist Epikur und Nietzsche.

Nur Nietzsch ist: Ein Zeitalter, das über 1.000 Jahre davon gelebt hat, dass ihm Sinn und Ziel idealistisch von außen durch einen Gott vorgegeben wurden, stürzt in eine Krise, wenn man merkt, dass diese Letztbegründung nicht mehr haltbar ist. Wenn man 1.000 Jahre lang sein aktuelles Leben in andere Hände gegeben hat, als Blasphemie verworfen hat, dass man sich selbst darum kümmert, dann beschreibt Nihilismus die trostlose Leere, wenn man entdeckt, dass dieser sinngebende und lebensvorschreibende Gott nur eine eigene Erfindung war. Seit der Renaissance hat die Wissenschaft die epikureische Atomtheorie entdeckt und sich von platonisch-aristotelischen Irrtümern (nach der Interpretation der Scholastik) befreit, nach der epikureischen Vorstellung des Gesellschaftsvertrags wurde in der französischen und englischen Aufklärung die Idee des modernen Staates geboren. Doch der Epikureismus als Lebenseinstellung und sprachkritische Denkweise ist nie wirklich reanimiert worden. Der Einzelgänger Nietzsche war dazu kein guter Missionar. Da ihm seine erfahrungsgeprägte glühende Feindschaft zum Christentum aus allen Knopflöschern sprang, war er für die meisten Menschen nicht gerade gewinnend.

Für Nietzsche ist der Nihilismus ein Drohbild. Nietzsche will kein Lebens-Nihilist sein. Er ist ein "Nihilist" des philosophischen Idealismus. Er will den lebensfeindlichen Werten der christlichen Moral evolutionär-innerweltlich begründete lebensbejahende Werte gegenüberstellen, bleibt aber immer wieder in seiner Feindschaft stecken. Er wird mehr als "Antichrist" wahrgenommen denn mit seinen positiven Ambitionen.

Sich auf eines zu beschränken wird schwer. "Jenseits von Gut und Böse" und die "Genealogie der Moral" sind recht aufschlussreich. "Also sprach Zarathustra" hat auch ein paar Stellen dazu aber nicht viele.

Jenseits von Gut und Böse ist wohl das passendste Buch von Nietzsche zum Nihilismus.