Minderwertigkeitskomplexe? Abitur, Medizinstudium, Doktor?
Liebe Leserinnen und Leser,
ich beginne bald zur Vergangenheitsbewältigung eine Ausbildung (Pflege), da ich über keinen linearen Werdegang wie andere in meinem Alter verfüge. Zunächst zu meiner Person: ich habe bereits die Fachhochschulreife, aber möchte zunächst ein Einkommen generieren. Ich bin 24 und meine Mitmenschen kommen aus akademischen Verhältnissen und haben somit das Abitur. Da ich über kein Vollabitur verfüge, plagen mich nun seit einer Weile Minderwertigkeitsgefühle. Ich werde des Öfteren gefragt, ob ich ein Abitur absolviert habe, wodurch ich dann in Verlegenheit komme. Es ist eine unterbewusste und intrinsische Selbstentwertung und ich fürchte nach der Wahrheit (Fachhochschulreife) nicht ernst genommen zu werden.
Das Gesundheitswesen ist ein sehr aufbrauchender Ort. Ich stelle mir die Frage, ob es im Kontext aktueller Gegebenheiten sinnvoll ist, einen so beschwerlichen Weg des Medizinstudiums oder des Doktoranden zu gehen. Zudem stelle ich mir die Sinnfrage darin, ob es sinnvoll ist, sich in dem deutschen Gesundheitssystem über die berufliche Ausbildung hinaus so viele Strapazen zuzuziehen. Ich möchte nicht durch die ärztliche Tätigkeit verschleißen. Das Leben ist so viel mehr als das Studium. Aber manche Menschen legen ihren Sinn in ihre Profession, in das Studium und das ist ebenso respektabel. Schon Sigmund Freud konstatierte, wie tief diese Komplexe der Minderwertigkeit in uns kultiviert sind. Und das entspricht nicht meinem Verständnis dessen, was es heißt, ein Mensch zu sein. Wir müssen mehr als diese Komplexe sein, sie überkommen. Es ist ein Lebensaufgabe und persönliche Aufarbeitung.
Ich habe folgende Möglichkeiten:
• nach Ausbildung mein Abitur an einem Abendgymnasium nachholen, meinen Seelenfrieden und mein Ehrgefühl wiedererlangen durch diesen (vermeintlichen) Makel
• Bachelor und Master absolvieren, anschließend promovieren (würde sich leider nicht wie ein authentisches Abitur anfühlen, jedoch ist es ohnehin nur die Hochschulzugangsberechtigung und somit im späteren Berufsleben nicht so wichtig)
• nach Ausbildung und Berufspraxis fachgebundene Studienbescheinigung (Bachelor oder Fachwirt) erhalten und Medizin studieren (aber dann bin ich schon wesentlich älter und das Medizinstudium eine harte Geschichte)
Ich bin verzweifelt durch die Menge an Möglichkeiten. Durch die Konnotationen, die mit der Wertigkeit eines Studiums einhergehen. Studium A sei wertiger als Studium B. Auch ein erfolgreich absolviertes Studium wird in seiner Wertigkeit relativiert. Ein Mensch leistet etwas und wird auch dann entwertet. Ein Ehrentitel wäre es, Arzt, Lehrer oder sonstiges zu werden. Ich bewundere die Hartnäckigkeit und Passion der Menschen in ihrem Studium mit Staatsexamen. Ich wünsche mir, so etwas auch zu leisten. Aber mir ist meine Gesundheit wichtig. Meine Sozialkontakte. Angehende Lehrer und Ärzte werden tagtäglich aufgebraucht. Ein Leben auf dem Zahnfleisch?
Ich danke herzlich für die Zeit aller Leserinnen und Leser.
Grüße
gutefrageposter
3 Antworten
Aus welchen Gründen möchtest du das Medizinstudium anfangen? Möchtest du nur Arzt/Ärztin werden, damit du gesellschaftlich gut gestellt bist und dich andere bewundern?
Kein Abitur zu haben, ist alles andere als ein „Makel“. Ich finde es eher bewundernswert, wenn man eine Ausbildung macht, Erfahrung sammelt und dann mit dem vielen Wissen ins Studium geht. Diese Leute haben mir („bloß“ Abitur) so viel beim Lernen voraus und können einfacher Zusammenhänge herstellen. Unter Kommilitonen fragt kein Mensch nach irgendeiner Abinote oder sowas. Wenn du kein Abi hast, passt das auch! Keiner wird da ein Fass aufmachen und wenn doch: distanzier dich von den Personen :)
Denken wir doch mal weiter:
Irgendwann, Jahre später hast du Abi und jahre später studierst du Medizin.
Und dann bist Hautarzt oder so und fühlst dich Chirurgen unterlegen.
Oder Psychiatern oder Gynäkologen.
Vielleicht kommen auch nur Frauenärzte in die VIP Golfclubs oder die Cheffärzte von Rehakliniken.
Also wenn es dir sooo wichtig ist, nicht unterlegen zu sein, dann wurschtelst du dein Lebenlang daran rum, dich nicht unterlegen zu fühlen.
Es gibt immer Menschen deren Status höher ist.
Status macht auch nicht glücklich übrigens.
Aber Überforderung macht unglücklich.
Ich kann dich gut verstehen, habe auch kein Abitur und mich oft gefragt, ob andere deshalb was besseres sind, zumindest benehmen sich einige so. Aber ich kann dir sagen, es ist nicht so. Ich hab eine Ausbildung gemacht, mit 28 mein Medizinstudium begonnen und in Regelstudienzeit abgeschlossen. Ich dachte, danach würde ich mich besser fühlen, stolz sein oder so, aber es ist nicht wirklich anders als vorher. Also wenn du Medizin studieren willst, dann tu es, aber nur weil du es willst und nicht weil du irgendeinen Status brauchst. Du bist genauso viel wert ohne Abitur und ohne Doktortitel.
Danke für deine verständnisvolle Antwort. Man fühlt sich verstandener, wenn Personen mit ähnlichen Lebenslagen ihre Sichtweise teilen. Grundsätzlich denke ich, ist es sehr bewundernswert, dass du dieses lernintensive Studium auf dich genommen hast. Ich habe auf deinem Blog gesehen, dass du lange Pendelzeiten hinter dir gelegt hast. Das ist ein hohes Maß an Selbstdisziplin, nichtsdestotrotz bist du sehr bescheiden. Es ist wirklich interessant, dass sich dein Selbstbild dadurch nicht sehr verändert hat. Hat mich erstmal Baff gemacht und zum Nachdenken angeregt. War es für dich ein Leben auf Strom oder konntest du in dieser langen Zeit auch inne halten, dem Hier und Jetzt Achtung schenken?
Schön, wenn ich dir etwas weiterhelfen konnte. Man sollte immer bescheiden sein, auch ein Chefarzt war irgendwann mal ein kleiner Student oder Assistenzarzt, leider vergessen das viele irgendwann. Also ich hab nebenbei immer gearbeitet an den Wochenenden und meine demenzkranke Oma mit gepflegt, das war insgesamt alles sehr zeitintensiv. Ich hatte immer Bedenken, dass ich das nicht schaffe und dann im Endeffekt, wie man es auch öfter mal vorgeworfen bekommt als jemand ohne Abitur, jemandem den Studienplatz weggenommen hätte. Das hat mich angespornt und auch weil ich mir selbst was beweisen wollte. Ich hab mir glaub ich unterm Strich mehr Stress gemacht als nötig, daher hatte ich sehr wenig Freizeit. Das wäre auch deutlich entspannter möglich gewesen. Und danke für deine netten Worte :-)
Kein Abitur zu haben ist ein Makel, erzähl keine Märchen, das wirft gutefragepost nur zurück.