Kann mir jemand diese Karikatur erklären (Dolchstoßlegende)?

6 Antworten

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Es werden in der Karikatur in einem Gegensatz eine nationalistische Lüge (oberes Bild; „Ein Dolchstoß, der eine Legende ist“) und eine Wahrheit (unteres Bild; „Ein Dolchstoß, der keine Legende ist“) einander entgegengestellt.

Das obere Bild zeigt, was für eine Vorstellung in der Dolchstoßlegende ( https://de.wikipedia.org/wiki/Dolchsto%C3%9Flegende ; https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/innenpolitik/dolchstosslegende.html ) verbreitet wurde, einer wahrheitswidrigen Darstellung, die falsch (Deutschland befand sich am Ende des Ersten Weltkriegs in einer militärischen verlorenen Lage und dies nicht wegen eines Verhaltens der Zivilbevölkerung; die Novemberrevolution folgte z. B. auf die verlorene militärische Lage und geschah nach einem Waffenstillstandsgesuch im Oktober) behauptete, das deutsche Heer an der Front habe im Ersten Weltkrieg, im Feld unbesiegt, von der Heimat aus von hinten einen Dolchstoß erhalten und dies sei Schuld an der Niederlage Deutschlands und den folgenden Bedingungen des Friedensvertrages gewesen. Beschuldigt wurden Linke, aber nicht selten auch allgemein Demokraten oder auf rassistische Weise Juden. Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff, die 1916 – 1918 an der Spitze der Obersten Heeresleitung (OHL) standen, waren an dieser nationalistischen Lüge beteiligt, die der militärischen Führung half, sich ihrer eigenen Verantwortung zu entziehen.

Im oberen Bild ist dargestellt, wie ein Zivilist einen Soldaten von hinten mit einem Stoß erdolcht. Dies ist die „nationalistische Lüge“ der Überschrift.

Im unteren Bild ist dargestellt, wie ein Rechtsextremist (Hakenkreuz auf der Kleidung; nicht nur Nationalsozialisten verwendeten Hakenkreuze als Symbol, sondern auch andere Rechtsextremisten) einen Zivilisten von hinten mit einem Stoß erdolcht. Dies ist die „Wahrheit“ der Überschrift.

Der Soldat im oberen Bild trägt Uniform, Stahlhelm, Gewehr und Rucksack/Tornister und befindet sich offenbar an einer Front (des Ersten Weltkrieges), wie kreuzförmig aufgestellte Balken und Stacheldraht im Gebiet vor ihm zeigen. Der Zivilist trägt eine für Arbeiter typische Schiebermütze. Ein politisch linksstehender Arbeiter soll gemeint sein.

Der Mann mit Dolch im unteren Bild trägt einen eher vornehmen Hut und ist damit als sozial höhergestellt als ein einfacher Arbeiter dargestellt. Da die Karikatur am 9. September 1921 erschien, verhältnismäßig bald nach dem Mord an dem demokratischen Politiker Matthias Erzberger am 26. August 1921, kann in diesem Zusammenhang der Mann mit Dolch im unteren Bild als ehemaliger Offizier und Angehöriger einer geheimen paramilitärischen Organisation gedacht werden.

Die Person, die angegriffen wird, kann allgemein als eine die Weimarer Republik vertretende (sie politisch tragende und als eine für sie stehende) gedeutet werden. Ein allgemeiner Zusammenhang sind von Rechtsextremen begangenen politische Morde und Mordversuche.

Die Zeit der Entstehung und Veröffentlichung der Karikatur ist bei der Deutung ein wesentlicher Umstand.

„Nationalistische Lüge und Wahrheit“, Zeichnung von Oskar Theuer, steht in: Ulk. Wochenschrift des Berliner Tageblatts, Nr. 36, 50. Jahrgang, 9. September 1921

http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ulk1921/0141 ; https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ulk1921/0141/scroll

Philipp Scheidemann, der im Aussehen eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Zivilisten im unteren Bild hat, und Walther Rathenau scheiden damit als die Karikatur veranlassende reale Fälle aus, da das Attentat (Mordanschlag) auf Philipp Scheidemann erst am 4. Juni 1922 geschehen ist und die Ermordung von Walther Rathenau am 24. Juni 1922.

Matthias Erzberger (Deutsche Zentrumspartei; kurz: Zentrum) ist am 26. August 1921 ermordet worden. In der Nähe des Kurortes Bad Griesbach im Hochschwarzwald haben ihn, als er mit seinem Parteifreund Carl Diez einen Spaziergang unternahm (wegen eines Wetters mit Nieselregen hatten sie Regenschirme dabei), Heinrich Schulz und Heinrich Tillessen erschossen. Die Attentäter waren ehemalige Marineoffiziere, in der Marine-Brigade Ehrhardt des Korvettenkapitäns Hermann Ehrhardt, nach deren Auflösung in deren geheimer Nachfolgeorganisation »Organisation Consul« (abgekürzt: OC), in deren Auftrag sie bei der Ermordung handelten. Carl Diez, der mit seinem Regenschirm einen Angreifer zurückzuschlagen versuchte, wurde schwer verletzt (vgl. zum Mord Sabine Pappert, Matthias Erzberger : Bad Griesbach, 26. August 1921. In: Michael Sommer (Hrsg.), Politische Morde : vom Altertum bis zur Gegenwart. Darmstadt : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005, S. 192 – 200).

In der Karikatur ist eine Naturlandschaft zu sehen und der Person entfällt ein Regenschirm aus der rechten Hand.

Matthias Erzberger stimmt zwar vom Aussehen nicht gut (er ist rundlicher und ich kenne nur Bilder, die ihn bartlos bzw. mit Oberlippenbart zeigen; Carl Diez scheint dagegen einen etwas längeren Bart getragen zu haben), aber aufgrund der zeitlichen Nähe ist ein Bezug auf die Mordtat an ihm sehr wahrscheinlich.

Matthias Erzberger war eine Symbolfigur der Weimarer Republik. Als Urheber der Friedensresolution des Deutschen Reichstags vom 19. Juli 1917, Unterzeichner des Waffenstillstand von Compiègne am 11. November 1918 (auf Wunsch und mit Zustimmung der Obersten Heeresleitung mit Paul von Hindenburg an der Spitze) und wichtiger Politiker beim Übergang von einem monarchischen Obrigkeitsstaat zu einer parlamentarischen Demokratie, Reichsfinanzminister (mit einer wichtigen Reichsfinanzreform, die vereinheitlichte und große Vermögen stärker heranzog) hatte er sich starke Feindschaft von rechtsradikaler Seite zugezogen. Gegen ihn war eine Haß- und Verleumdungskampagne gelaufen.

Die Karikatur nimmt auf den individuellen Fall Bezug, will aber wohl über ihn hinausgehen.

In der Legende ist das Opfer ein Soldat, der für die deutsche Armee steht. In der Realität (keine Legende) ist das Opfer ein Zivilist. An Politiker, die für die Weimarer Republik stehen, kann auf einer allgemeinen Ebene gedacht werden (in diesen Zusammenhang passen auch Walther Rathenau und Philipp Scheidemann). Sie wurden von rechtsaußen als „Novemberverbrecher“ bezeichnet.

William A. Coupe, German political satires from the Reformation to the Second World War. Part 3: 1918 - 1945. Commentary. White Plains, NY : Kraus, 1985, S. 78:

„In the upper picture, above the caption 'A stab in the back that is a legend', a worker stabs a German front-line soldier from behind. In the lower picture, a civilian is being stabbed in similar fashion by a well-dressed ex-officer who wears a swastika badge on his left breast. The caption records that this is 'A stab in the back that is no legend'.”

„Oskar Theuer's cartoon takes up the image popularised by Hindenburg to account for the German defeat in 1918 […].”

„The immediate inspiration for the cartoon probably lies in the murder of Erzberger on August 26, 1921, by two former members of Ehrhardt's Brigade (Free Corps), whose emblem had been the nationalist swastika.”

earnest  28.09.2020, 16:23

Deine Idee aufgreifend, dass die Karikatur über den Einzelfall hinausgehend gedacht sein könnte und die Tatsache im Augen habend, dass Matthias Erzberger völlig anders aussah als das Mordopfer (siehe auch meine Anmerkung): Könnte man nicht vielleicht sagen, dass die Karikatur in erster Linie über konkrete Einzelfälle hinausgeht?

Die Ermordung von Linken durch politisch Rechtsstehende waren in diesen Jahren ja wahrlich kein Einzelphänomen.

Natürlich ist es ein Unding, dass in einem Schulbuch der Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht genannt wird...

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Albrecht  28.09.2020, 18:04
@earnest

Ja, die Karikatur zielt über den Einzelfall hinausgehend auf eine allgemeine Aussage.

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earnest  28.09.2020, 18:07
@Albrecht

Ich halte sie für "archetypisch". Wobei man über den Archetyp trefflich diskutieren könnte...

Zum Beispiel: Ist das nun ein typischer Intellektueller? Oder ist das ein "typisch jüdischer" Intellektueller?

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Das obere Bild zeigt die Dolchstoßlegende, wonach Linke den im Ersten Weltkrieg an der Front kämpfenden Soldaten in den Rücken gefallen seien und der Krieg deshalb verloren gegangen sei. Diese Darstellung wird heute überwiegend als Propagandalegende angesehen (siehe hier).

Das untere Bild zeigt wie ein Nationalsozialist einen politischen Gegner (Walther Rathenau?) von hinten ersticht. Das Bild stellt einen sogenannten Fememord dar (siehe hier).

Woher ich das weiß:Hobby – Beobachte politische Entwicklungen seit meiner Jugend.
earnest  27.09.2020, 19:55

Nur "überwiegend"?

Ein anderes - kontrafaktisches - Bild zeichnet höchstens die politische Rechte.

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Philippus1990  27.09.2020, 20:03
@earnest

Es ist ein subjektives Werturteil. Und bei einem Werturteil wird es immer irgendjemanden geben, der dieses anders fällt. Hier natürlich vor allem Ultranationalisten.

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earnest  27.09.2020, 20:33
@Philippus1990

Daran ist aber auch kein Fitzelchen subjektiv. Das WAR eine Lügenlegende. Aber es ist ja nicht Neues, dass Rechte das anders sahen und sehen.

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Grundlage ist die Dolchstoßlegende.

Nach dem ersten Weltkrieg wurde in nationalistischen Kreisen in Deutschland erzählt, dass die Deutsche Armee den Krieg ja gar nicht verloren hätte, sondern der Krieg nur durch die Revolution in der Heimat verloren ging. Die Heimat hätte quasi der Armee den Dolchstoß versetzt. Das stimmte natürlich nicht, die deutsche Armee war in den letzten Kriegsmonaten geschlagen. Dennoch haben insbesondere die Nazis mit dieser Dolchstoßlegende gegen die demokratischen Kräfte in der Weimarer Republik gehetzt und das Bild der ungeschlagenen Armee und den feigen Politikern gezeichnet.

Darauf spielen diese beiden Karikaturen an, die von jemandem kommen, der den Nazis eher kritisch gegenüberstand. Er zeichnet hier zwei Dolchstöße; Eine Bild des Soldaten der von hinten erstochen wird und ein Bild eines Politikers, der von hinten erstochen wird durch eine Person mit Hakenkreuzemblem. Beim oberen Bild sagt der Zeichner, dies ist eine Legende und beim unteren Bild schreibt er, dies ist die Wahrheit.

Die zweiteilige Karikatur nimmt die Dolchstoßlegende aufs Korn. Deren Hauptaussage ist, das deutsche Heer sei im Felde unbesiegt, von defätistischen Linken Elementen aus der Heimatfront von hinten erdolcht. Das stimmt natürlich so nicht, den der Krieg war zu dem Zeitpunkt der November Revolution (November 1918) im Prinzip bereits militärisch verloren.->Der Dolchstoß, der eine Legende ist. Diese Legende wurde von vielen Rechten, zuvorderst der Nsdap übernommen und propagiert.

Die Nsdap hat dann die Schuld an der Niederlage im 1.Weltkrieg in der Weimarer Republik immer mehr auf die politischen Feinde, die Republik treuen Parteien (meist eher Linken) abgewälzt, die die Weimarer Republik, ein (indirektes Produkt dieser Niederlage) verteidigten,um sie als politische Macht auszuschalten bzw. zu schwächen->Der Dolchstoß,der keine Legende ist

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Langjährige Beschäftigung mit Geschichte und Ländern
Spunk2001  27.09.2020, 20:15

Symbolisch steht hier anscheinend die Ermordung des,, Standarderfüllungspolitikers''Rathenau'', der als Jude und liberaler ein ideales Feindbild des NS gab, was von diesem auch wie oben beschrieben zur Schwächung der Demokratie genutzt wurde (der Mord an Rhatenau durch rechte Element(e).

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Grobbeldopp  28.09.2020, 08:30
@Spunk2001

Beachte die Ähnlichkeit der Figur zum bärtigen Hutträger Kurt Eisner

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Spunk2001  28.09.2020, 08:58
@Grobbeldopp

Ob das jetzt Eisner oder Rhatenau ist, bzw. eine dritte Person lässt sich bei der Bildqualität nur schlecht bestimmen.

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Grobbeldopp  28.09.2020, 09:20
@Spunk2001

Ja, Rathenau ist auch der größere Fall.. nur der war nicht so mager 😃.

Msn müsste mal gucken von wann genau das ist.

Wahrscheinlich ist es sogar eher Rathenau weil die Verbindung zu den Nazis stärker ist.

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