Kann es sein, dass jemand mit Asperger-Syndrom als Kind überhaupt nicht auffällt, aber als Jugendlicher schon?

verreisterNutzer  22.03.2022, 22:30

"Überhaupt nicht auffällt", oder "mit überhaupt keiner Symptomatik auffällt"?

Eule09 
Fragesteller
 22.03.2022, 22:32

Höchstens ein wenig.

4 Antworten

Von Experte DianaValesko bestätigt

Das kann vor allem dann passieren, wenn das bisherige Umfeld in Kindergarten und Grundschule relativ tolerant war, das Kind dort zwar etwas sonderbar und eigenartig war, aber nicht besonders auffiel bzw. akzeptiert wurde - aber die weiterführende Schule damit nicht klar kommt und andere Parameter ansetzt bzw. ein straffes "Normendenken" pflegt, durch das jedes "andere" Kind dann unabhängig von seiner eigentlichen Diagnose oder auch seines Charakters, der gar keine Diagnose mit sich bringt, sondern einfach etwas "eigen" ist, durchs Raster fliegt. Habe ich schon miterlebt. Ich kenne einige Diagnosen, die auf diese Weise bei Zehn- bis Zwölfjährigen im Bereich 5./6. Klasse später revidiert wurden oder wo später durch andere Ärzte u.a. Depressionen erkannt und diagnostiziert worden sind. Alle diese Kinder waren schon im Grundschulalter eher still, was dann auffiel, als in der weiterführenden Schule die Frühpubertät einsetzte, die Jungs klatschten und johlten, Sex-Witze rissen und Schüler XYZ daran kein Interesse hatte - was dann die ganzen Lehrer auf den Plan rief: Der Kleine ist anders, der ist nicht normal, der muss auf "Schwachsinnigkeit" getestet werden und am besten auf eine Hilfsschule!

Aus dieser Reihe kenne ich bezüglich Asperger mindestens drei Fälle, wo das Asperger-Syndrom zwischen 2002 und 2007, als die Kinder zwischen elf und 14 Jahre zählten zwar "diagnostiziert", nach einigen Jahren bzw. meist kurz vor oder nach dem Ende der Pubertät durch andere Ärzte aberkannt worden ist. In einem Fall wurden stattdessen eindeutig Depressionen diagnostiziert die dem Kinder-/Jugend-/Schulpsychologen nicht aufgefallen seien (während der Kinderarzt schon damals gesagt hatte, er glaube nicht an Asperger, sondern eher an die Vorstufe von Depressionen, die man beobachten solle - er fand aber kein Gehör); ein Anderer hatte ein merkwürdiges Elternhaus und schlechten Umgang, konnte sich aber auf dem Gymnasium ab ca. 14 Jahren durch den geringer werdenden Einfluss seiner Eltern und durch Hobbys und einen gleichaltrigen Freundeskreis voll entfalten, der Dritte war in Wahrheit gar nicht krank und eigentlich völlig in Ordnung, aber ganz einfach extrem ruhig und in sich gekehrt/kein Partygänger und liebte Klassische Musik - was seine Lehrer überfordert und auf den Plan gerufen hatte, weil sie nicht wussten, wie sie mit dem Zwölfjährigen, der so anders war als die anderen, umgehen sollten! Hätte ich mehr nachgestochert, hätte ich mehr rausbekommen, ganz sicher.

Allerdings ist Asperger oft auch - so meine Erfahrung - eine Verlegenheitsdiagnose für eher ruhige und vielleicht ungesellige Kinder, die erteilt wird, "damit was auf dem Papier steht", alle Eltern, Lehrer usw. erstmal schön beruhigt sind, es im Sinne des Normendenkens endlich eine Erklärung gibt, ordentlich Tabletten verabreicht werden können und man gemeinsam versuchen kann, das Kind unter dem "Deckmantel" der Wohltätigkeit "normal zu machen".

Meine Mutter ist selbst Lehrerin mit fast 30 Jahren im Dienst und sagte mir vor einiger Zeit zu dem Thema, dass oft auch junge, ehrgeizige Kolleginnen vor der Verbeamtung sich profilieren wollen, indem sie solche Fälle "aufdecken" und alle Alarmglocken schrillen lassen - ähnliches habe sie auch bei jungen Erzieherinnen beobachtet.

Woher ich das weiß:Berufserfahrung
Eule09 
Fragesteller
 23.03.2022, 17:00

Danke für deine sehr ausführliche Antwort!

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rotesand  23.03.2022, 17:02
@Eule09

Gerne. War einige Zeit im Ehrenamt tätig und habe hier viel Beklemmendes miterlebt, auch das waren Beobachtungen und Erlebnisse aus dieser "Epoche" meines Lebens. Für mich ist das auch ein Stückweit ein Reizthema, weil hier sehr viel Schmu getrieben wird und man Kindern letztlich Leid antut, das vollkommen vermeidbar wäre, wenn man etwas toleranter wäre bzw. so tolerant wäre, wie man vielerorts gebetsmühlenartig vorgibt zu sein.

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"Überhaupt nicht auffällt" ist sehr, sehr unwahrscheinlich. Spätestens im Kindergarten oder in der Schule fallen Eigenheiten auf. Allerdings wollen manche Eltern/Lehrer die Eigenheiten nicht sehen und beachten sie dann einfach nicht. Das Kind solle sich anpassen, punkt.

Ich habe schon die "Geschichte" vieler Asperger gehört. Alle Eltern berichten, dass ihr Kind auffällig war. Interessant ist die Geschichte einer Zwillingsmutter mit einem Asperger, die erzählt hat, dass erste Auffälligkeiten schon in den ersten Tagen aufgetreten sind. Sie hatte halt durch den "normalen" Zwillinge den direkten Vergleich.

Es gibt welche, die es erst später diagnostiziert bekommen.

Als Kind merkte ich das noch nicht (mein Umfeld hingegen schon). Umso älter man wird, desto mehr Bewusstsein entwickelt man in der Regel.