Ist die Weimarer Klassik gescheitert?

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Man kann nicht sagen, die Weimarer Klassik sei gescheitert; nur die Ideale der Weimarer Klassik scheitern, wie von jeher alle Ideale scheitern müssen. Das hat Schiller in seinem langen Gedicht „Die Ideale“ genau beschrieben und begründet: Die Ideale müssen an der harten irdischen Realität scheitern.

Goethe allerdings hielt es zeitweise für möglich, dass man die Ideale der Humanität und Wahrhaftigkeit auch in der rauen Welt verwirklichen könne (s. seine „Iphigenie“ und sein Gedicht „Das Göttliche“: „Edel sei der Mensch…“); Schiller übrigens auch: siehe seine Ballade „Die Bürgschaft“: Das Freundschaftsideal hat den Tyrannen am Schluss überzeugt.

Doch Goethe hat in seinem Nachruf auf Schillers Tod („Epilog zu Schillers Glocke“) die Realisierung des Göttlichen (das Wahre, Gute, Schöne) praktisch ausgeschlossen:

„Denn er war unser! Mag das stolze Wort

Den lauten Schmerz gewaltig übertönen!

Er mochte sich bei uns im sichern Port

Nach wildem Sturm zum Dauernden gewöhnen.

Indessen schritt sein Geist gewaltig fort

Ins Ewige des Wahren, Guten, Schönen,

Und hinter ihm, in wesenlosem Scheine,

Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine.

Das heißt also: das „Gemeine“ (der Welt) ist so stark, dass das „Wahre, Gute, Schöne“ keine Chance hat, es ist nur im „Ewigen“ realisierbar.

In späteren Jahren verlegte sich Goethe auf einen anderen Weg: In dem (über-)langen Gedicht „Die Geheimnisse“ (von 1825) zeigt er eine Möglichkeit, sich aus den Klammern des „Gemeinen“, der niederzwingenden Kräfte des Irdischen, zu befreien und für sich das Ideal des Guten, Humanen zu verwirklichen: indem der Mensch sich selbst überwindet (ähnlich wie Schopenhauer später die Überwindung des (bösen) Willens für möglich hielt, indem der Mensch den Willen verneint bzw. in sich abschwächt und dadurch das Gute, von Schopenhauer Mitleid genannt, in sich zur Entfaltung bringt). In dem Goethegedicht lauten zwei Strophen so:

Wenn einen Menschen die Natur erhoben,

Ist es kein Wunder, wenn ihm viel gelingt;

Man muss in ihm die Macht des Schöpfers loben,

Der schwachen Ton zu solcher Ehre bringt:

Doch, wenn ein Mann von allen Lebensproben

Die sauerste besteht, sich selbst bezwingt:

Dann kann man ihn mit Freuden Andern zeigen,

Und sagen: das ist er, das ist sein eigen!

 

Denn alle Kraft dringt vorwärts in die Weite,

Zu leben und zu wirken hier und dort;

Dagegen engt und hemmt von jeder Seite

Der Strom der Welt, und reißt uns mit sich fort:

In diesem innern Sturm und äußern Streite

Vernimmt der Geist ein schwer verstanden Wort:

Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,

Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.

 Auch in der „Novelle“ hat Goethe diesen Vorgang der Selbstüberwindung dichterisch gestaltet. Am Schluss führt ein Kind den furchtbaren, frei herumlaufenden Löwen in den Käfig zurück; der Löwe stellt die Vernichtungskraft des Bösen, die leidenschaftlichen und zerstörerischen Mächte im Menschen symbolisch dar, sie werden durch die kindlichen Kräfte des Reinen und Guten bezwungen.

Auch hier zeigt sich, dass Goethe die Verwirklichung der Kräfte der Humanität und Wahrhaftigkeit, d.h. die Ideale der Weimarer Klassik, für realisierbar hielt, und zwar im Individuum, das sich selbst überwindet. Insofern kann man ganz und gar nicht sagen, die Weimarer Klassik sei gescheitert.

Woher ich das weiß:Recherche