Das Ornament der Masse

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Beim Ornament der Masse ist die Masse Träger einer ästhetischen Produktion, in der das einzelne Individuum weitgehend verschwindet. Es gibt eine abstrakte Berechnung der körperlichen Ausführung, die Bewegungen sind mathematische Demonstrationen. Das Ornament macht für Betrachtende ein Muster sichtbar, das die einzelnen sich bewegenden Individuen nicht sehen können und das sich dem ihnen innewohnenden Bewußtsein entzieht.

Mit einer Kulturtheorie der Abstraktion will Siegfried Kracauer in seinem 1927 erschienenen Essay den Ort der Zeitepoche im Geschichtsprozeß durch eine Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen und mittels ihrer unbeachteten Regungen bestimmen.

Das Ornament der Masse ist eine Parallele zur Rationalität der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftordnung.

In der Zunahme von Rationalität steckt die Möglichkeit zu Fortschritt, andererseits wird ein natürlicher Zustand zerschlagen, das Individuum ist auf eine Teilfunktion beschränkt, in eine Vorgabe gezwungen.

Die Entwicklung ist ambivalent und dialektisch.

Eine Geschichtsphilosophie mit einigen nicht genau abgegrenzten und klar bestimmten Begriffen wird dargeboten.

Siegfried Kracauer versteht den Geschichtsprozeß als Prozeß der Entmythologisierung, der im Dienst des Durchbruchs der Wahrheit steht. Inhalt dieses Prozesses ist der Kampf der Vernunft gegen die Naturmächte und den Mythos. Unabhängigkeit von natürlichen Bedingungen schafft Raum für das Eingreifen der Vernunft. Der Prozeß der Rationalisierung ist einer der Entzauberung von Überbauten des mythologischen Denkens, die Natur in ihrer Allmacht bestätigen. Eine organische Gesellschaftslehre, die den natürlichen Organismus zum Vorbild der gesellschaftlichen Gliederung erhebt und ein Nationalismus, der keine höhere Einheit als die schicksalhafte der Nation kennt, sind Beispiele mythologischen Denkens.

Wahrheit (z. B. heißt es, es gehe der Vernunft um Einsetzung der Wahrheit in der Welt; ein Sieg der um der Wahrheit willen und eine Erhellung durch die Vernunft werden genannt) ist hier ein pathetisch verwendeter Ausdruck. Es gibt ein Ziel, einen Endpunkt der Vollendung der Vernunft. Dies könne nur erreicht werden, wenn das Denken den Menschen so herstellt, wie er aus der Vernunft ist. Der Mensch ist dann nicht in seinem Wesen verkümmert, er gelangt zu einem gehobenen Leben. Etwas Utopisches ist in den Gedanken zum Geschichtsprozeß enthalten. Wahrheit und Vollendung der Vernunft bekommen Eigenschaften einer Erlösung.

Ein Stück weit ist nach seiner Auffassung davon etwas in echten Märchen enthalten. Das Reich der Wahrheit sei vorgeträumt in den echten Märchen, die keine Wundergeschichten sind, sondern die wunderbare Ankunft der Gerechtigkeit meinen. In der Frühzeit des Märchens schon sei die bloße Natur um des Sieges der Wahrheit willen aufgehoben. Die natürliche Macht gehe an der Ohnmacht des Guten zugrunde, Treue triumphiere über magische Künste.

Es geht um eine Loslösung/Befreiung/Emanzipation von einer fesselnden angeblich natürlichen Ordnung der Dinge und mythologischem Blendwerk. In den echten Märchen wird in einer Vorwegnahme des Geschichtsprozesses, einer Verheißung, eine scheinbar unverrückbare und unwiderrufliche Ordnung der Dinge gesprengt, um die Dinge an ihren richtigen Ort zu stellen.

Der von Siegfried Kracauer vertretene Weg des Geschichtsprozesses, wie er ihn darlegt, führt nicht zurück, sondern durch das Ornament der Masse hindurch voran. Die kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftordnung rationalisiert nicht zu viel, sondern zu wenig. Die instrumentelle Rationalität ist eine getrübte Vernunft, die den Menschen nicht begreift. Die Vernunftgemäßheit des Ornaments der Masse ist bloßer Schein. Stattdessen ist eine Vollendung der Vernunft und eine veränderte Gesellschaft das richtige Ziel.

Msinza 
Fragesteller
 30.01.2015, 19:40

Vielen Dank für diese ausführliche Antwort!

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Der Beitrag von Kracauer ist eine hochabstrakte Phantasie, die, wenn einem die Inhalte seiner abstrakten Begriffe nicht geläufig sind, sehr unverständlich bleiben. In der extremen Verallgemeinerung laden sie dazu ein, eher wie ein Gedicht, dass man die Abstrakta dann mit eigenen Konkreta füllt, was aber immer wieder zu Schwierigkeiten führen kann, wenn das dann als verstanden geglaubte, zu Widersprüchen führt. In Deinem Abschnitt: Was versteht er überhaupt unter "Vernunft"? Was versteht er unter "Wahrheit"? Und was ist "eine Vernunft, die die Wahrheit versteht"? Das hört sich hochidealistisch nach einer extern gegebenen Wahrheit an. Wo soll der Ort für eine fixe Wahrheit sein in einer sich ständig verändernden Welt mit den uns einzig bekannten "Wahrheitssuchenden", den Menschen, die in einer Ewigkeit gerade mal um die 75 Jahr Zeit dazu haben? Dass Märchen als freie, phantasievolle Erzählungen versuchen, hinter die vordergründige Oberfläche zu schauen, ist unumstritten, aber wenn schon die Deutungen der Oberfläche als "wahr" umstritten sind, wie ungewiss sind die Deutungen des "dahinter"? Und Phantasie und phantasievolle Inspiration, sind diese die "bessere Vernunft"? Ich tue mir schwer mit diesen Hegelablegern, den Abstraktionskonstruktivisten, den Begriffsaufblähern und -umdeutern. Mir wird da zuviel willkürlich hineingedeutete und hinter vieldeutigen Abstrakta versteckt.

Msinza 
Fragesteller
 30.01.2015, 19:42

Vielen Dank für Deine Antwort und besonders für die anregenden Fragen!

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