Lieber alfred13. Meine Kritik an deiner Fragestellung habe ich bereits in meinem Kommentar zu der für dich angeblich hilfreichsten Antwort von aptem formuliert (die Sache mit dem Realismus). Kant ist kein Sozialwissenschaftler, Meinungsforscher, Journalist oder Pfaffe, sondern ein streng in wissenschaftlichen Kategorien denkender Philosoph. Ihn bewegt daher in Moralangelegenheiten nie die Frage: Welche Moralvorstellungen haben die Leute? Welche sollten sie meiner Meinung nach haben? u.ä. Ihn treibt ein ganz anderes intellektuelles Verlangen. Und das will ich kurz skizzieren, weil ich in der gutefrage-Plattform ähnliche Fragestellungen und z.T. sehr an Kant vorbeigehende Antworten gelesen habe.
Ausgehend von seiner in der Kritik der reinen Vernunft dargelegten Erkenntnistheorie stellt Kant die Frage, inwieweit die dort entwickelten Gedanken zur strengen Gesetzmäßigkeit und Allgemeinheit der Erkenntnis der Erscheinungen durch das Individuum übertragbar sind auf die Sphäre des praktischen Handelns. Für diese Sphäre ist - anders als bei der reinen Vernunft - nicht die Natur das grundgelegte Objekt, sondern der freie WILLE. Und schon handelt sich Kant das Grundproblem jeder Moralphilosophie ein: FREIHEIT versus GESETZ. Ist nämlich der Wille frei - und das muss er nach Kant ja sein, soll eine Handlung nach moralischen Kriterien überhaupt bewertbar sein, dann gerät diese Freiheit stets in die Gefahr der reinen Will-kür, ist also frei von jeder Verallgemeinerbarkeit, quasi chaotisch. Handle ich hingegen ausschließlich so, wie die Gesetze oder eine gängige Moral es mir vorschreiben oder gar unter Zwang, dann handle ich nicht frei aus meiner Persönlichkeit heraus und insofern nicht gut.
Wie löst man also diese Antinomie (= Widerspruch) zwischen Freiheit und Gesetz? Kants Antwort: Indem der freie Wille selbst die Naturgesetzlichkeit seiner Handlungen will! Und so entstehen alle Varianten, in denen Kant den kategorischen Imperativ ausdrückt, etwa Handle so, dass die Maxime deines Tuns ein allgemeines Gesetz sein könnte. Kategorisch nennt Kant diesen Anspruch an die praktische Vernunft, weil sie sich in ihrem Wollen nicht abhängig machen darf von empirischen Gegebenheiten wie etwa Neigung, Lust, Laune, Mitgefühl, Materialismus, kulturellen Gegebenheiten, ja nicht einmal von nicht gewünschten Folgen ihres Tuns. Die Vernunft soll ausschließlich geltend machen, ob sie den Inhalt jeder Handlung so beurteilt, dass diese Allgemeingültigkeit (=Gesetzescharakter) haben könnte. Diese Stellung der praktischen Vernunft zum Tun nennt Kant Pflicht. Aus Pflicht und nicht aus Neigung handeln, ist daher eine der anderen Formulierungen des kategorischen Imperativs. Imperativ nennt Kant diesen Anspruch, weil er die Handlungsverpflichtung in die Freiheit der individuellen Ausgestaltung gelegt wissen will. Einfacher ausgedrückt: Das Modalverb wollen (= Freiheit) und das Modalverb müssen (= Gesetz, Pflicht) ergeben zusammengenommen den Imperativ des Modalverbs sollen.
Moderne Ethiken haben die Kantsche Fragestellung übernommen und meist - anders als er - sich auf eine Seite der von ihm entwickelten Polarität des moralischen Handelns begeben. Und so kennen wir etwa die Gewissensethik: Du bist ausschließlich der freien Beurteilung von Handlungen durch deinen vernünftigen Willen unterworfen; und die Verantwortungsethik: Du bist ausschließlich der Wirkung deiner Handlungen auf die Allgemeinheit gegenüber verantwortlich. Beide Varianten verfehlen den Spannungsbogen, in dem Kant die Moralität angesiedelt sieht.
Moralphilosophie in dem von Kant gemeinten Sinn muss geradezu weltfremd sein, weil sie sich ja weder als Analyse bestehender noch als Handlungsanleitung künftiger Moralvorstellungen versteht. Vielmehr ist sie als das unter dem Dach der Vernunft angesiedelte Entwickeln und Darstellen des Prinzips von Moralität überhaupt. Das geht soweit, dass Kant sogar "über ein vermeintliches Recht, aus Nächstenliebe zu lügen" (s. http://www.muenster.org/august/philosophie/pl_texte/kantlueg.htm) sich ausgelassen hat.
Ich persönlich halte es in Fragen der Moralphilosophie mit Hegel. Präziser als Kant (und eben darum auch weltfremder) kann man die Ethik-Antinomie nicht darstellen. Und darum sollte man schlicht darauf verzichten. Drum hat der enzyklopädische Geist Hegel keine Ethik geschrieben, sondern alle Moral betreffenden Gedanken unter den Themen der Sittlichkeit, Familie sowie des Rechts abgehandelt.