Hallo! Eine komplexe Frage - ob ich sie so aus der Ferne nur anhand Deiner Beschreibung beantworten kann, weiß ich nicht. Aber einen Versuch ist es wert:
Deine Ratte macht sich steif (=Zeichen für Furcht oder Schmerz), wenn Du sie hochhebst, atmet mit deutlich erhöhter Frequenz und zeigt sogar ein ganz typisches (nicht etwa krankhaftes!) Rattensymptom für massiven Stress: den Austritt von Hämoglobin (?) durch die Schleimhäute, die zu einer Rotfärbung von Körperflüssigkeiten (meist im Nasenausfluss und Tränenflüssigkeit) führt. Es sieht oft so aus, als würden sie aus Nase oder Augen bluten.
Auch auf aktive Berührung (Streicheln) reagiert Deine Ratte ähnlich.
Grundsätzlich zeigt sie also für eine Ratte absolut klassische Stress-Symptome. Das ist erst einmal einfach so und Du wirst es akzeptieren müssen. Punkt.
Eine andere Frage ist, woher dieses Verhalten kommt oder wie Du darauf reagieren kannst und ihr Leben zukünftig angenehmer gestalten kannst.
Was die Ursachenforschung betrifft: Hier können viele Faktoren eine Rolle spielen
die Haltung, also Käfiggröße (kein Mäusekäfig sondern eher eine Papageien-Voliere oder ein kompletter Kleiderschrank mit Versteckmöglichkeiten aller Art), die Ausstattung des Käfigs (Abwechslung, Verstecke, Beschäftigungsmöglichkeiten), soziale Kontakte zu anderen Ratten (absolutes Muss - Einzelhaltung ist schlicht Tierquälerei!), Standort des Käfigs (ruhiges Eck, trotzdem Impulse von außen und nicht nur wenn Du sie aktiv besuchst),
die Aufzucht und insbesondere ihre Erfahrungen während ihrer juvenilen Prägephase (in welchem Alter hast Du sie bekommen, wie ist sie vorher behandelt worden?), die Art und Weise, wie Du sie ans Handling gewöhnt hast (hast Du sie einfach hochgenommen oder konnte sie die Geschwindigkeit der Kontaktaufnahme bestimmen? Und wie machst Du es jetzt?) und und und.
Auch medizinische Gründe können natürlich vorliegen, z. B. Schmerzen (auch frühere Schmerzerfahrungen) oder neurologische Phänomene, die sie Dir leider nicht mitteilen kann.
Ach ja, und dann kann man Ratten natürlich auch erziehen (ich rede von positiver Verstärkung!)... Etwas vermenschlicht gesagt könnte es ihrem ausgeprägten "Ego" einfach nicht passen, dass Du mit ihr machst was Du willst und wann es Dir passt, statt dass sie über sich und ihre subjektive Sicherheit entscheiden kann. Hier geht es aber nicht um die "böse, dominante Ratte" sondern schlicht um einen Überlebensmechanismus!
Ein Vertrauensverhältnis, in dem sie es als OK akzeptieren kann, wenn auch einmal Du entscheidest, was passiert und wie es passiert, muss langsam und behutsam aufgebaut werden - im Tempo der Ratte und nicht des Menschen, der meist zu zuviel Zwang neigt (Fiktiv: "Jetzt habe ich die Ratte schon gekauft, dann will ich sie auch streicheln können. Und damit will ich nicht vier Wochen warten, bis sie es von sich aus zum ersten Mal anbietet."). Aus dieser Eile entstehen die meisten Probleme...
Was meinst Du mit "Meckern", wenn sie auf der Schulter sitzt? Wie ist sie da hingekommen?
Nimmt sie von sich aus Kontakt zu Dir auf, wenn Du es ihr einfach passiv anbietest, also zum Beispiel Deine Hand in den offenen Käfigeingang legst und da mal eine Viertelstunde liegen lässt?
Genauso wie Hundewelpen haben auch Ratten eine intensive Prägephase in ihrer Kindheit (die naturgemäß deutlich kürzer ist als bei Hunden - und bei denen geht die Prägephase gerade einmal bis zur 12. Lebenswoche! Die zeitliche Grenze bei Ratten kenne ich leider nicht genau, aber sie endet auf alle Fälle vor der Geschlechtsreife...).
In dieser Phase lernen Ratten elementare Dinge von ihren Eltern und ihrem Rudel oder auch diesen gigantischen Ersatzrudelmitgliedern namens Mensch - zum Beispiel ob Menschen nett, angenehm und spannend sind oder angsteinflößend. Erfahrungen werden als selbstverständlich gespeichert, manche Erfahrungen, die sie in dieser Phase nicht haben machen können, lösen später Angst aus.
Hatten sie z. B. keinen direkten Körperkontakt zu Menschen und kein Handling sondern lebten nur im Käfig (oft bei Massenzuchten und im Tierhandel), ist es später viel schwerer, Vertrauen aufzubauen. Dass Deine Ratte schon trächtig war als Ihr sie gekauft habt (wo? Züchter oder Zoohandel?), spricht dafür, dass Ihr die Prägephase auf alle Fälle verpasst habt und nicht wisst, wie es ihr zu diesem Zeitpunkt ergangen ist oder ob sie vielleicht in dieser elementaren vertrauensbildenden Phase schlechte Erfahrungen gemacht hat, die sich eingebrannt haben.
Übrigens: Wenn sie den Tierarzt als Kletterbaum benutzt (Dich auch?), ist die Situation eine völlig andere. Denn hier kann sie sich frei bewegen und fühlt sich nicht eingeengt (=bedroht).
Grundsätzlich sollte man Ratten mindestens paarweise halten. Hat sie einen Kumpel? Werden Ratten alleine gehalten, fühlen sie sich grundsätzlich schon unsicherer (würde uns Menschen auch nicht anders gehen, z. B. als einziger Mensch unter Aliens...). Kommen unangenehme Erfahrungen dazu, prägt sich das ins Rattenhirn ein. Ach, was mir noch einfällt: Wie alt ist sie eigentlich?
Was Deine Möglichkeiten angeht, Deiner Ratte beim Aufbau von Vertrauen zu helfen, halte ich mich jetzt etwas kürzer:
Optimiere die Haltung, wenn sie noch nicht optimal ist. Optimiere die Beschäftigungsmöglichkeiten und, wenn nicht vorhanden, versuche eine zweite Ratte zu finden, mit der sie sich verträgt (langsam aneinander gewöhnen, sonst kann es ernsthafte Verletzungen geben!). Dann hast Du schon mal gute Voraussetzungen geschaffen.
Was das Handling Deiner Ratte angeht, empfehle ich Dir einen pädagogischen Alltagstipp: "Wenn der Schüler etwas nicht verstanden hat, dann muss der Lehrer mindestens zwei Schritte zurückgehen und noch einmal von Vorne anfangen." Auf Deine Ratte übertragen: Sie empfindet es als elementar bedrohlich oder höchst unangenehm, wenn Du sie anfasst oder gar hoch hebst, und zeigt typische Stress-Symptome, die dies bestätigen. Gehe zwei Schritte zurück und fange wieder beim Anfang an, als wäre sie ganz neu bei Euch: Langsame Bewegungen, sanfte Sprache, viel Ruhe. Und fasse sie nicht an, biete ihr nur an, Dich zu untersuchen. Zeitraum: Vier Wochen Minimum. Dann kannst Du in einer gemütlichen Kletterbaum-Situation (Du als Kletterbaum) sie aus versehen leicht mit einem Finger berühren - und gleich wieder weg mit der Hand. Vielleicht kannst Du sie, während Du sie aus der Hand fütterst, ganz vorsichtig mit einem Finger am Kinn kraulen (unten, das kann sie besser kontrollieren als einen "Angriff" von oben), Dich nach mehreren Tagen langsam in Richtung Backe/Ohransatz weiterarbeiten und dann schrittweise bis zum Ganzkörperkontakt.
Wichtig ist, dass Du, sobald sie ansatzweise Stress-Symptome zeigt, sofort wieder einen Schritt zurück machst und Dich an das hältst, was sie als angenehm empfindet. Wichtig ist, immer einen guten Abschluss zu finden, damit ihre Erinnerung an Dich eine positive ist. Also nicht nach der Kletterbaum-gaaanz-vorsichtig-Einheit plötzlich nach ihr grapschen, um sie wieder in den Käfig zu hocken, weil Du keine Zeit mehr für sie hast.
Mit diesen Maßnahmen und einer Tonne Geduld kannst Du bestimmt eine Menge bewirken! Und wenn Du eine Ratte hast, die es einfach nicht mag, hochgehoben zu werden (auch die gibt es, egal warum) - dann bring ihr einfach bei, auf ein Signal hin auf Dich drauf zu klettern oder wieder zurück in den Käfig. Und schon habt Ihr zwei eine gemeinsame "Knobelaufgabe".
Ich drücke Euch zwei die Daumen!