Hast du ein (deutsches / deutschsprachiges) Lieblingsgedicht?

16 Antworten

Mir gefallen viele Gedichte von Hermann Hesse, insbesondere die beiden folgenden. In diesen drückt er eine seiner wichtigsten Ideen aus: Das Leben ist ein stetiges Suchen und Entdecken.

Gegenüber von Afrika (1911)

Heimathaben ist gut,
Süß der Schlummer unter eigenem Dach,
Kinder, Garten und Hund. Aber ach,
Kaum hast du vom letzten Wandern geruht,
Geht dir die Ferne mit neuer Verlockung nach.
Besser ist Heimweh leiden
Und unter den hohen Sternen allein
Mit seiner Sehnsucht sein.
Haben und rasten kann nur der,
Dessen Herz gelassen schlägt,
Während der Wandrer Mühsal und Reisebeschwer
In immer getäuschter Hoffnung trägt.
Leichter wahrlich ist alle Wanderqual,
Leichter als Friede finden im Heimattal,
Wo in heimischen Freuden und Sorgen Kreis
Nur der Weise sein Glück zu bauen weiß.
Mir ist besser, zu suchen und nie zu finden,
Statt mich eng und warm an das Nahe zu binden,
Denn auch im Glücke kann ich auf Erden
Doch nur ein Gast und niemals ein Bürger werden.

 Stufen (1941)

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Heinrich Heine: "Beine hat uns zwei gegeben..." (Ich bin mir nicht sicher, ob das Gedicht einen eigenen Titel hat... es steht in meiner Gesamtausgabe hinter "der Wanzerich")

Für mich verkörpert es alles, was ich an Heine mag: es ist gesellschaftskritisch und revolutionär ("und man macht aus deutschen Eichen keine Galgen für die Reichen"), aber auch hedonistisch und selbstironisch ("Gott gab uns nur eine Nase, /weil wir zwei in einem Glase /nicht hineinzubringen wüssten /und den Wein verschlappern müssten")

Außerdem Erich Fried, von unerreichter Präzision und immer noch hochaktuell: "Wer will / dass die Welt /So bleibt wie sie ist / der will nicht / dass sie bleibt"

Und wenn ich mich gerade wehmütig fühle, dann deklamiere ich den Beginn der Duineser Elegien von Rilke. Wenn ich depressiv bin, dann drückt das exakt meine Stimmung aus. Ich sage nur: "o, und die Nacht, die Nacht , wenn der Wind voller Weltraum uns am Angesicht zehrt"

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung

Hallo,

das ist eine spannende Frage - und wie du richtig sagst, gibt es sehr viele ausgezeichnete deutschsprachige Dichter und Dichterinnen. Natürlich gibt es einige Dichter, deren Werke besonders beeindruckend sind, etwa Goethe, Schiller, Heine, Rielke, Trakl, Benn und Brecht. Aber gerade was das Wortspiel angeht, habe ich drei Lieblingsdichter: Ernst Jandl, Robert Gernhardt und Christian Morgenstern.

Hier als Beispiel ein Gedicht von Jandl:

Bild zum Beitrag

Und hier eines von Gernhardt:

Bild zum Beitrag

Und zum Schluss noch ein ziemlich bekanntes Gedicht von Morgenstern, hier wunderbar vertont und durch einen Scherenschnitt hervorragend in Szene gesetzt:

https://www.youtube.com/watch?v=Ysijnv8fTUU

Aber eines meiner absoluten Lieblingsgedichte ist wohl "schtzngrmmm" von Ernst Jandl, ein Meisterstück der Lautmalerei, das meisterhaft die Geräuschkulisse in einem Schützengraben abbildet und zusätzlich den Reiz hat, dass die t aussehen wie Grabkreuze. Hier das Gedicht:

Bild zum Beitrag

LG

 - (Psychologie, Sprache, Wort)  - (Psychologie, Sprache, Wort)  - (Psychologie, Sprache, Wort)
Dichterseele  30.06.2023, 00:28

Das ist vielleicht ein Laut-Experiment - aber kein Gedicht!

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verbosus  30.06.2023, 12:00
@Dichterseele

Naja, ein klassisches Gedicht ist es natürlich nicht, aber es hat alles, was ein Gedicht braucht: Strophische Form, Bildhaftigkeit und verdichtete Sprache ... Auch Lautgedichte und Konkrete Poesie gehören zur Lyrik, aber bei deinem Nutzernamen kann ich mir schon vorstellen, dass du bei Dichtung an konventionelle Poesie denkst - vermutlich sogar selber dichtest. Ich liebe Jandl für seine großartige Sprachkunst und finde es besonders reizvoll, Jandl zu rezitieren, da seine Gedichte geradezu dazu herausfordern, sich zu überlegen, wie man so ein Lautgedicht vorträgt. Ich bin mir sicher, dass du mir darin zustimmst, dass gerade lyrische Texte laut vorgetragen wollen.

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Dichterseele  30.06.2023, 23:42
@verbosus

Wo ist denn hier noch Sprache?

Den Schmarrn kann man nicht mal aussprechen, geschweige denn, dass da irgend ein Sinn dahinter steckt.

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verbosus  01.07.2023, 18:08
@Dichterseele

Kleine Erklärung für dich, da du das Gedicht offenbar nicht verstehst ... schtzngrmmm = Schützengraben: Im Schützengraben verhält man sich möglichst leise - und wenn wir leise sprechen, werden die Vokale leiser, nicht die Konsonanten! Die aus schtzngrmmm abgeleiteten Wörter, stellen lautmalerisch Kriegsgeräusche dar. "Schmarrn" ist das garantiert nicht ... oder sollte ich sagen "schmrrn"?

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Dichterseele  01.07.2023, 23:23
@verbosus

Von mir aus ist das ein Sprachrätsel - ein Gedicht würde ich das nicht nennen.

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Von einem Experten bestätigt

Von Heinz Erhardt - Das Blümchen.

L.g. Jan

Woher ich das weiß:Recherche

Mir gefiel Goethes "Mignon" sehr und Börries von Münchhausens "Weißer Flieder".
Auch Schillers "Bürgschaft" hat mich tief beeindruckt.

Ansonsten gefallen mir einige meiner eigenen philosophischen Gedichte sehr gut:
"Meines Lebens Lied" und "Denkanstöße".
Beispiele und Buch findest Du auf meiner Literarischen Homepage.

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Woher ich das weiß:Berufserfahrung – Allround-Autorin und Nachhilfelehrerin
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