Ich selbst bin urchristlich orientiert und finde die Frage berechtigt, denn der gängigen Ansicht vieler christlicher Kirchen, dass wir durch den physischen Tod von Jesus nun bis heute dauerhaft errettet und wenn wir an ihn glauben quasi "automatisch" unsere Sünden aufgehoben seien (praktisch ein "Freibrief"), folge ich nicht. Diese Sichtweise widerspricht meiner Anicht nach etlicher grundlegender Lehren von Jesus selbst, wie der Lehre von Saat und Ernte etc., wir werden immer wieder zu guten Taten aufgerufen, die nur wenig relevant wären, wenn wir "sowieso" errettet sind, allein wg. des christlichen Glaubens.
"Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo weder Motten noch Rost sie fressen und wo Diebe nicht einbrechen und stehlen." (Mt 6,20) und "lrret euch nicht, Gott lässt sich nicht verspotten. Denn was ein Mensch sät, das wird er auch ernten. Denn wer auf sein Fleisch sät, wird vom Fleisch Verderben ernten, wer aber auf den Geist sät, wird vom Geist ewiges Leben ernten." (Galater 6,7-8)
Für mich ist diese dauerhafte Errettungsaussage und die Überhöhung der Kreuzigung tatsächlich eine Form alter Kirchenpropaganda, so wie ja die kath. Kirche nachweislich auch Ablassbriefe verkauft hat, was für mich eine wirklich krasse Sünde darstellt, um sich an den Ängsten der Gläubigen selbst zu bereichern.
Belegen kann es sicherlich niemand, aber ich glaube daran, dass Jesus größte Bedeutung in seiner Lehre, seinem idealen moralischen Vorbild und seinem erhabenen Wesen als Gottes Sohn liegt. Für mich ist sein körperliches Sterben am Kreuz kein Höhepunkt seines Wirkens, sondern der krasseste Beweis für seine unerschütterliche Erhabenheit, dass er selbst unter den schlimmsten Bedingungen allem entspricht was er lehrte, ein für normale Menschen unerreichbares, aber ideales Vorbild dessen was Gott sich von uns wünscht. Trotz allem vergibt er seinen Peinigern, wünscht allen nur Gutes und die Gnade Gottes. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lk 23,34). Und er vertraut weiterhin bis zum allerletzten komplett auf Gott, seinen Vater, auch wenn er fast verzweifelt im körperlichen Schmerz - „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“
Ein schöneres Zeugnis für den moralischen Stand der Menschheit wäre es für mich gewesen, wenn Jesus nicht grausam ermordet worden wäre, sondern physisch noch viele Jahre hätte weiter lehren und wirken können, vielleicht auch in verschiedenen Teilen der Welt. Aber viele Menschen, wie etwa damals die Römer, waren einfach zu grausam und zu machtbesessen, moralisch zu verkommen, um jemand wie ihn zu akzeptieren. Andererseits bleibt wohl der Punkt, dass dieses Sterben am Kreuz viele Jahrhunderte später noch so eine starke Symbolwirkung hatte, dass es zweifellos sehr stark zur schnelleren Verbreitung der christlichen Lehre beigetragen hat. Aber ich persönlich könnte mir definitiv auch ein weit verbreitetes Christentum auf Grundlage der Lehre Jesu vorstellen, ohne das diese grausame Marterung dafür eine Bedingung gewesen wäre, vermutlich wäre das sogar die schönere Welt gewesen, aber die damaligen Menschen waren jedenfalls moralisch noch nicht bereit dafür, soviel ist sicher...
(Ergänzung: Selbstverständlich wusste Gott vorher bereits, dass auf der Erde in dieser Zeit Jesu Tod unvermeidbar war, da er das Schlechte in all den Seelen kennt, aber ich glaube nicht so sehr, dass sein physischer Foltertod der entscheidende Punkt seiner Mission war, sondern das er eher "trotzdem" lehren und wirken musste, weil dies so bedeutsam war für die Entwicklung der Menschheit).