Wieweit hatt man das Proto Indogermanische rekonstruieren können?


30.05.2023, 09:50

Übrigens früher wurden die Sprecher dieser Sprache auch als Arier bezeichnet

3 Antworten

Hebräisch gehört (wie Arabisch, Aramäisch, Babylonisch/Assyrisch) nicht zu den indoeuropäischen/indogermanischen, sondern zu den semitischen Sprachen.

Die Rekonstruktion des Indoeuropäischen ist nicht darauf gerichtet, die komplette Sprache wiederauferstehen zu lassen. Das ist nicht möglich, weil zum einen unklar ist, ob es jemals eine einheitliche indoeuropäische Sprache gegeben hat, und weil es zum anderen keinerlei Schriftdokumente einer solchen Sprache gibt und auch die Aussprache unbekannt ist.

Die Forschung kann nur anhand von Vergleichen der verschiedensten Sprachen nach indoeuropäischen Wurzeln, speziell bei den Wortstämmen und der Wortbildung, suchen.

Ich kann dir hierzu relativ detaillierte Antworten geben, bin aber länger nicht mehr in der Materie.

Besonders die Indogermanische Grammatik und die Wortwurzeln sind gut rekonstruiert. Mykenisches und homerisches Altgriechisch, Vedisch und Hethitisch sind einigermaßen nahe daran.

"Typisch Indoeuropäisch" sind:

  • Verben: das Aspektsystem, Aktiv und Medium, athematisch und thematisch
  • Geschlechter: Animata und Inanimata wurden zu männlich, weiblich, sächlich,
  • 8-9 Fälle, Einzahl, Zweizahl und Mehrzahl, man vermutet zusätzlichen Kollektiv
  • Schwund-, Halb- und Vollstufen bei Vokalen, der germanische Ablaut
  • Faktiv- und Stativverben
  • ein reiches Inventar zur Verbalbeugung.

Unsicherheiten bestehen:

  • In der Satzstellung
  • bei Adjektiven
  • über genaue "Urheimat" und Aufspaltungsgeschichte
  • Welche mögliche Formen aus den Wurzeln jetzt genau verwendet wurden
  • genaue Aussprache der Gutturale und der unsäglichen Konsonantencluster in den Rekonstruktionen
  • Redensarten
  • über manche "unindoeuropäisch klingende" Wörter, Lehnwörter aus Nachbarsprachen?

Aus dem rekonstruierten Wortschatz lässt sich ableiten, dass "die Indoeuropäer" Pferde, Kühe, Schafe und Hunde hatten, Landwirtschaft mit Pflug und Melkvieh betrieben, Schnee, Räder, Türen und Wägen kannten und einen polytheistischen Götterhimmel um den Dyeus Pechter (strahlender Vater), aus dem später Tywaz und Jupiter wurden, hatten. Ein paar Kulturpflanzen waren schon bekannt. Sie betrieben ein patriarchales Sippensystem, hatten Häuser und das Dezimalsystem.

Es existiert eine rekonstruierte, erfundene "Fabel" Schleichers persönlich, "Das Schaf und das Pferd". Der Wortlaut weicht je nach Autor ab. Das erste Wort schon, Schaf/ ahd. Aue/lat. avis/hom-gr. ois wird rekonstruiert als avis, owis, chowis, weuwis, ʕouis.

Ich formuliere es so, jede Rekonstruktion ist in sich stimmig, aber kommt zu leicht abweichenden Ergebnissen. Je nach Methode, Quellenmaterial (Tocharisch, Mykenisch?), Gewichtung und unterstützenden Untersuchungen (genetisch, mathematisch-statistisch). Auch der angenommene Zeitraum kann 1000-2000 Jahre schwanken.

Letztendlich wissen wir nicht mal abschließend, wo die Urheimat lag - Anatolien oder Kurgan? Wie verlief die Spaltung? Wie groß war die Sprecherzahl? Die Mobilität? Was waren Nachbarkulturen (beeinflusst Lehnwörter, Aussprache)?

Es kann auch ganz anders verlaufen sein. Auswanderung in mehreren Wellen, Substrateffekte, große Epidemien fallen mir da ein.

Um auf deine Frage zurückzukommen: Nein, wir können den Klang dieser Sprache nicht mehr wiederherstellen, nur einige wahrscheinliche Eigenschaften rekonstruieren. je weiter wir zurückschauen, desto verwaschener wird das Bild. Schon bei 3000-4000 Jahre alten Sprachen mit teils geringem Textkorpus, die bis in die Neuzeit gesprochen wurden, gibt es Schwierigkeiten (Majasprachen, Ägyptisch etwa). Zum ähnlich alten Proto-Sinotibetischen konnte bislang keine Protospraceh rekonstruiert werden.

Hoffentlich konnte dies ein paar Fragen klären.

PS: Hebräisch ist eine Semitische Sprache, das zur Afroasiatischen Familie, gehört. Deren über 10.000 Jahre alte Protosprache ist nur ansatzweise rekonstruiert. Hebräisch weist noch viele typische Eigenschaften dieser auf und funktioniert völlig anders.

PPS: Das Wort Arier ist nur im Indoiranischen belegt und hat mit der NS-Pseudosprachwissenschaft nichts gemein.

Verelat777  02.03.2024, 22:58

Liest Du vorwiegend Fachbücher oder Internetartikel, wenn Du Dich mit indogermanischer Linguistik beschäftigst?

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ZitrusLiebe  03.03.2024, 07:30
@Verelat777

Da hast du mich erwischt. Ja, ich lese haiptsächlich etwas populärwissenschaftlichere Quellen, weil das nicht mein Studienfach ist. Nur in der Chemie traue ich mir zu, originale Papers zu lesen und zu bewerten.

Linguistik ist per se gefährlich, weil hier extrem viel Schwachsinn existiert. Hauptsächlich der völkische Nationalismus von Hindus, Türken, Tamilen, Arabern, Ungaren, Albanern usw. Dessen bin ich mir gewahr.

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ZitrusLiebe  03.03.2024, 14:43
@Verelat777

Es kommt auf die Definition von populärwissenschaftlich an. Auch bei wissenschaftlichen Journalen und seriösen Zeitungen existiert viel Müll.

Gerade heute musste ich erfahren, dass wohl ein Artikel des Guardians, in dem es um mutmaßlich noch überlebende Koptischsprecher in Oberägypten ging, ein relotiusreifer Hoax war.

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ZitrusLiebe  03.03.2024, 16:34
@Verelat777

Also, zuerst einmal habe ich viele Jahre Latein und Altgriechisch (und Hebräisch) gelernt. Kaegi und Gemoll geben einige Etymologien an.

Mein Interesse am PIE erwuchs erst ab der 10. Klasse so richtig, dank einer Lehrerin, die das studiert hatte.

Viele Parallelen fielen mir mit der Zeit selbst auf, wie die Verwandschaftsbezeichnungen, Götter, Zahlen oder das s- und Reduplikationsperfekt.

Vergiss nicht Homer mit Digamma, Dual und archaischen Formen und Endungen.

Später stieß ich auf das Linear B. Hier ist die Quellenlage beides recht übersichtlich und seriös, anders als bei den kretischen Hieroglyphen und Linear A.

Weiterhin gibt es ein paar "Klassiker" der Indogermanistik - Schleicher, Verner, Möller usw. Das Lexikon der Indogermanischem Verben ist mir geläufig. Sanskrit, Baltoslawisch, Keltisch und Hethitisch sind mir eher fremd.

Vor einigen Jahren habe ich mich auch oberflächlich mit dem Althochdeutschen befasst - speziell der Karolingerzeit. Alleine über das Wissen um die Lautverschiebungen versteht man viel.

Ansonsten habe ich mir vieles über die Jahre angelesen, ohne tiefer in die Materie (Lexikostatik, Phylogenetik) einzusteigen. Ich wollte wissen, wer unsere Vorfahren, unsere "Urheimat" waren.

Viele Fachleute schreiben auch "populärwissenschaftlich" - z. B. im Spektrum-Verlag, der Zeitschrift der Max-Planck-Gesellschaft (oder vieler anderer Einrichtungen) oder den alten Orion-Heften. Viele Zeitungen/Zeitschriften fassen aktuelle Studien zusammen. So etwas ist seriöse Populärwissenschaft.

Auf Wikipedia findet man zahlreiche "echte" Quellen in den Fußnoten. Die Indogermanistik ist ein gut untersuchtes Gebiet und quasi meine "Heimat" - insofern ist auch Wiki hier eine gute Quelle. Dem traue ich bei anderen Sprachfamilien nicht so, da ich hier die Kompetenz nicht habe.

Mein Fokus ist ohnehin gerade in anderen Sprachfamilien. Mandarin, Baskisch und Japanisch sind die derzeitigen Projekte.

Korrigiere mich bitte, wenn ich irgendwo Mist schreibe.

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Verelat777  03.03.2024, 16:47
@ZitrusLiebe

Vielen Dank für die ausführliche Antwort. Gibt es bestimmte Fachbücher (also keine Zeitschriften oder Internetartikel), die Du zur Indogermanistik gelesen hast?

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ZitrusLiebe  03.03.2024, 16:53
@Verelat777

Suchst du nach einsteigerfreundlicher Literatur, die alles abdeckt (Genetik, Götter, Rekonstruktionsmethoden, Forschungsgeschichte, Urheimat, Sprachfamilien, Grammatik...), oder nach einer bestimmten Fragestellung?

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Verelat777  03.03.2024, 17:03
@ZitrusLiebe

Ich bin nur daran interessiert, welche Fachbücher (keine Zeitschriften oder Internetartikel) Du persönlich zur Thematik gekauft/gelesen hast.

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ZitrusLiebe  03.03.2024, 17:26
@Verelat777

Ich habe diverse Bücher v. a. zu Latein, Altgriechisch und Sanskrit im Regal stehen, die das Thema immer wieder anschneiden - Etymologien, Aoriste, Lautverschiebungen. Dazu ohne Ende Sagen, Wörterbücher, Originaltexte, Reclams.

Wie gesagt - "echte" Fachbücher und Standardwerke besitze ich nur für Physik, Chemie, Spektroskopie und Biochemie. Das sind meist umfassende Werke von 1000 Seiten und kosten an die 50-100 Euro. Meinst du so etwas?

Für so etwas fehlt mir einfach die Zeit und das Geld. So tief stecke ich nicht drinne. Ich werde mal zusehen, ein paar halbwegs gute, nicht zu akademische Bücher zu finden, um mir nicht immer alles zusammenzulesen (wobei sich in Einzelheiten die Gelehrten widersprechen!).

Ernst Kausen oder Michael Meier-Brügger haben Standardwerke verfasst, die gute Ausgangspunkte zu sein scheinen.

Und noch etwas sei gesagt - ich nehme viele Dinge anders wahr. Mein Interesse an Linguistik und Conlang ist größtenteils dessen geschuldet, dass ich eine mittelstarke Autismus-Spektrums-Störung habe. Wissenserwerb und Kategorisierung rund um Spezialthemen, repetitive Interessen.

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ZitrusLiebe  03.03.2024, 17:56
@Verelat777

Wäre diese schon mehrfach gestellte Frage damit geklärt und dürfte ich den Grund hierfür erfahren? Gerne auch per PN.

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Eine rekonstruierte Sprache, die man "flüssig sprechen" könnte ? Das ist wohl nicht möglich. Man muss sich wohl damit begnügen, einige Elemente einer solchen verschwundenen Sprach-Gruppe (man kann kaum eine ganz konkrete Sprache wieder aufleben lassen) grob zu skizzieren.